Karl Nolle, MdL

Agenturen, ddp-lsc, 14:46 Uhr, 03.10.2009

«Wir treten aus unseren Rollen heraus»

Am 6. Oktober 1989 verlasen Dresdner Schauspieler eine selbstverfasste Protest-Resolution
 
Dresden (ddp-lsc). Die geheime Mission drohte bereits im Ansatz zu scheitern: Der Dresdner Fotograf Hans-Ludwig Böhme ist am Abend des 6. Oktober 1989 mit seiner Frau auf dem Weg ins Theater, als ihr Auto von der Bereitschaftspolizei angehalten wird. Die Stadt befindet sich im Ausnahmezustand - Züge mit Flüchtlingen waren aus der bundesdeutschen Botschaft in Prag nach Westen gerollt. Tausende Bürger hatten den Hauptbahnhof in Dresden besetzt. Aus Krawallen wurden friedliche Demonstrationen. Auch die Schauspieler des Staatsschauspiels taten Ungeheuerliches: Sie verlasen Resolutionen.

«Wir wurden am damaligen Standesamt angehalten», erinnert sich Böhme. Schließlich ließ die Polizei sein Auto passieren und das Paar gelangte zum Kleinen Haus, der Dresdner Kammerspielbühne, wo Böhme heimlich seine Ausrüstung in einer Beleuchterloge einrichtete. Er hatte von einer bevorstehenden Aktion Wind bekommen, weil sein Atelier direkt im Bereich der Probebühne 3 lag, wo Regisseur Wolfgang Engel gerade «Faust» probte.

Der heute in Leipzig lebende Engel berichtet: «Es gab damals im Staatsschauspiel täglich Vollversammlungen, bei denen alle Kollegen über die Situation im Land diskutierten.» Bereits seit dem 4. Oktober verlasen die Künstler eine am 18. September in Berlin verfasste «Resolution der Rocker und Liedermacher».

«Dann aber wollten wir selbst einen Text schreiben», sagt Engel. «Aus der Versammlung heraus wurde ein Redaktionskollegium gewählt, das sich nachts hinsetzte.» Irgendwann habe er sich aus den Debatten ausgeklinkt und den Extrakt herausgefiltert - die Resolution «Wir treten aus unseren Rollen heraus».

Intendant Gerhard Wolfram und Chefregisseur Horst Schönemann hätten Bescheid gewusst, sagt Engel. Daran erinnert sich auch noch Schauspieler Rainer Müller. «Die beiden alten Genossen waren involviert.» Und Schauspielerin Vera Irrgang betont: «Wolfram hat sich sehr hinter uns gestellt. Alle haben zusammengehalten.»

Wolfram legte Engel auch nahe, «eine Weile nicht daheim zu übernachten». Ein deutliches Signal, wie gefährlich die Situation für alle war. Nachdem Engel sich - für den Fall der Fälle - um Fürsorge für seine Mutter gekümmert hatte, schlief er tatsächlich mehrere Nächte bei Freunden.

Schon bei der Verlesung der Berliner Resolution am 4. und 5. Oktober war Vorsicht geboten. Müller und sein Kollege Thomas Förster sondierten genau die Wege zu den Hinterausgängen des Theaters. Angekündigt wurde die Resolution eingangs der Vorstellung zu «Nina, Nina, tam Kartina»: Wer von den Zuschauern mag, könne bleiben. «Während der Vorstellung zu lesen, hätten wir für undemokratisch gehalten. Immerhin sollte das Publikum nichts aufgenötigt bekommen, es war ja wegen des Theaters da», berichtet Müller.

Am 6. Oktober war für die Dresdner Resolution Premiere, im Anschluss an eine Vorstellung von «Spiel's nochmal, Sam». A uf der Bühne sah Böhme auch seine Tochter und seinen heutigen Schwiegersohn.

«Weil die Aktion für den 7. Oktober verboten wurde, haben sich die Schauspieler eben ins Publikum gesetzt und den Zuschauern den Text direkt gesagt.» Getrickst wurde auch in der (noch unfreien) Presse: Uta Dittmann, Redakteurin der Tageszeitung «Die Union», durfte die Resolution nicht eins zu eins übernehmen, ließ sie sich aber von Engel als «Interview» diktieren.

«Wir hatten eine mörderische Angst», sagt Schauspielerin Helga Werner. «Vor allem dachte ich, was wird aus meinen zwei Kindern, wenn sie uns verhaften. Aber dieses merkwürdige Gefühl, dass sich im Land nichts verändert, wollten wir verändern.» Das habe Mut gemacht. Und Engel kommentiert: «Es war allen freigestellt, sich anzuschließen. Angst zu haben ist ja völlig normal. Ein Unterschied sind nur Angst und Feigheit.»

An die Reaktionen erinnert sich Werner wie heute: «Das war ein ganz großes Einverständnis mit den Zuschauern. Bis auf ein paar Bestellte ...» Vera Irrgang sagt: «Ein älterer Herr brüllte: 'Das wird Folgen haben'. Dann ging er wütend.»

«Die Leitung des Theaters und das Ensemble standen wie ein Mann zusammen. Dazu zählten auch Techniker, Leute aus der Garderobe, die Maskenbildner», sagt Müller. «Auch Genossen standen auf der Bühne. Ganz altgediente wie Lotte Meyer, oder ehemalige, wie Hans-Jörn Weber und Rudi Donath.» Ab dem 8. Oktober traten die Theaterleute wieder auf der Bühne aus ihren Rollen heraus.

Hans-Ludwig Böhme gelang es, die Verlesung am 6. Oktober unbemerkt aus seinem Versteck zu fotografieren, allerdings unter schwierigen Bedingungen. Nur ein Bild ist darum brauchbar. Er hat es aufbewahrt. Am Abend des 8. Oktober verlor der SED-Staat zuerst in Dresden seinen Alleinvertretungsanspruch gänzlich: Auf der Prager Straße formierte sich aus Tausenden die «Gruppe der 20», Bürger, mit denen am folgenden Morgen im Dresdner Rathaus die SED in den Dialog treten musste.

Von ddp-Korrespondent Torsten Hilscher

ddp/til/ple
011446 Okt 09

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