SPIEGEL Nr. 06/2010, Seite 32, 07.02.2010
Karrieren: Ein Bild von einer Frau
Andrea Ypsilanti
Andrea Ypsilanti war ein Jahr lang von der politischen Bühne verschwunden. Nun drängt sie zurück. Noch immer gibt es Anhänger, die in ihr die Ikone einer neuen linken Bewegung sehen.
Sie hat schon eine Weile geredet, hinter sich den glitzernden Vorhang, im Sessel neben sich den Moderator, in der Hand das Mikrofon. Über Skandalisierung und die Macht der Energiekonzerne, über Wahlversprechen und Gewissensfragen, über die Macht der Tabus in der Politik, über die SPD. Sie hat über ihre Lebensthemen gesprochen an diesem Mittwochabend der vergangenen Woche, jetzt will Andrea Ypsilanti noch etwas über die Genossen aus Sachsen-Anhalt sagen, sie ist ja in Halle zu Gast. Sie beginnt: "Und Jens Bullerjahn, mit dem sitz ich ja im Präsidium ..."
Der Sozialdemokrat Jens Bullerjahn ist zu diesem Zeitpunkt zwar noch Finanzminister in Sachsen-Anhalt, sitzt aber schon seit langem nicht mehr im Parteipräsidium, in dem Ypsilanti seit zweieinhalb Monaten ebenfalls nicht mehr vertreten ist. Es ist nur ein Versprecher, sie bringt Gegenwart und Vergangenheit durcheinander, aber er sagt einiges aus, wie sie sich sieht, ihre Rolle in der Sozialdemokratie. Sie ist nicht fertig mit ihrer Mission. Noch lange nicht.
Eigentlich ist Andrea Ypsilanti seit dem 3. November 2008 Vergangenheit. An diesem Tag verweigerten ihr vier SPD-Landtagsabgeordnete die Gefolgschaft und zerstörten ihren Traum, zur hessischen Ministerpräsidentin aufzusteigen. Von der belächelten Kandidatin war sie zur Beinahe-Wahlsiegerin geworden, zur nationalen Figur und zu einer entscheidenden Spielerin in der SPD, weil sie erstmals im westlichen Teil der Republik mit der Linken zusammenarbeiten wollte. Als das Vorhaben scheiterte, war sie am Ende.
Sie hatte nicht nur ihr Wort gebrochen, ihr waren auch so viele Fehler unterlaufen, dass diese für mehrere Leben in der Politik gereicht hätten. Die Einsicht fiel ihr schwer, sie fühlte sich schlicht verraten, doch nach einigem Zögern gab sie den Vorsitz der Landespartei auf, legte den Fraktionsvorsitz nieder. Sie war dann mal weg, fertig mit der Politik, mit ihrer Parteiführung, aus der Öffentlichkeit verschwunden.
Seither ist mehr als ein Jahr vergangen, nun sitzt sie mit Sahra Wagenknecht von der Linkspartei auf dem Podium des Steintor-Varietés in Halle. "Frauen ganz links", so lautet die Überschrift, unter der sie über den Kapitalismus und seine Auswüchse reden, über den Osten und den Westen der Republik, eine gerechtere Welt und natürlich über sich selbst. Drei Tage zuvor hat Andrea Ypsilanti mit politischen Freunden etwas gegründet, was man eine Denkfabrik nennen soll.
Die Fabrik heißt Institut Solidarische Moderne, zu den Mitgründern zählen Sozialdemokraten, Grüne, Leute von der Linkspartei, Wissenschaftler, Gewerkschafter. Sie haben noch gar nicht wirklich angefangen mit dem Denken, doch es hat schon viel Wirbel gegeben um das Institut, was hauptsächlich daran lag, dass Ypsilanti dabei ist.
Es soll ums große Ganze gehen, um "einen neuen Politikentwurf", um die langen Linien linker Politik, um ein Gegenmodell zur schwarz-gelben Bundesregierung und damit um das theoretische Fundament für ein rot-rot-grünes Bündnis in Deutschland.
Ausgerechnet Ypsilanti, die dem linken Projekt mit ihrem Scheitern in Hessen den größten Bärendienst erwiesen hat, soll nun dafür sorgen, dass dieses Projekt eine gedankliche Basis bekommt. Die kann ja zuweilen nicht schaden.
Als die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis von jemandem aus den eigenen Reihen zu Fall gebracht wurde, engagierte Simonis sich bei Unicef und trat in einer Tanzshow bei RTL auf. Andrea Ypsilanti sitzt weiter im hessischen Landtag und hat jetzt ihre Denkfabrik. Anders als die ehemalige Ministerpräsidentin Simonis ist sie offenbar nicht der Meinung, dass irgendwann auch Schluss ist. Die Frage ist, was sie noch will.
Sie will zurück auf irgendeine Art von Bühne, so viel ist klar. Es soll eine Bühne sein, die sie für angemessen hält, was gar nicht so einfach ist, wenn man so viel von den eigenen Fähigkeiten hält wie Andrea Ypsilanti.
Im Dezember hat sie gesagt, ihre "derzeitige Tätigkeit" befriedige nicht ihre "politische Leidenschaft", was nur konsequent ist, da ihr bislang niemand Leidenschaft für den hessischen Kleinkram nachgesagt hat. Vor allem aber geht es ihr wohl darum, etwas gutzumachen, um Rehabilitierung.
Wenn breite Teile der Öffentlichkeit ein derart verheerendes Bild von jemandem haben wie von Ypsilanti, bleiben eigentlich nur zwei Möglichkeiten: ein fast übermenschliches Maß an Nehmerqualitäten oder ein neuer Anlauf. In beiden Fällen muss man ziemlich von sich überzeugt sein.
Ihre Kollegen im Landtag erzählen, Ypsilanti wirke in diesen Tagen erstaunlich entspannt. Sie sitzt nicht mehr mürrisch in den Sitzungen, sie verzichtet inzwischen darauf, an ihrem Nachfolger Thorsten Schäfer-Gümbel herumzunörgeln, brummelt nicht mehr vor sich hin, während andere reden. Sie mische sich wieder konstruktiv ein, sagen ihre Kollegen. Sie hat sich für den neuen Anlauf entschieden.
Als sie und ihre Mitstreiter am vergangenen Sonntag in Berlin ihr Institut gründeten, reichten die Stühle nicht aus, hinten im Raum mussten die Leute stehen. Um die 60 hatten sich im Erdgeschoss des Hauses Unter den Linden 50 versammelt. Es gehört zum Komplex des Bundestags, die linken Nachdenker trafen sich dort, wo sie einmal die Mehrheit stellen wollen. Ein junger Grüner stellte den Gründungsaufruf vor, am Ende gab es Szenenapplaus. Es herrschte Aufbruchstimmung, es sollte der Beginn von etwas Großem sein. Ypsilanti war wieder da.
Das Institut hat mehr als 170 Gründungsmitglieder, der grüne Europaabgeordnete und einstige Attac-Sprecher Sven Giegold ist dabei, die Linken-Bundestagsabgeordnete Katja Kipping, diverse Wissenschaftler und der SPD-Linke Hermann Scheer sowieso. Er ist Träger des alternativen Nobelpreises und Ypsilanti eng verbunden, er ist ihre persönliche Denkfabrik. Scheer hat ihr für Hessen ein mehr als ambitioniertes Energiekonzept geschrieben, sie wollte ihn dann gegen alle Widerstände zum Wirtschafts- und Umweltminister machen. Sie sind zusammen gescheitert, sie wollen gemeinsam neu starten, die beiden verbindet eine Menge.
Im Gründungsaufruf des Instituts finden sich viele Elemente aus dem alten Wahlprogramms. Er beginnt mit den Worten "Die Zeit ist reif", das war Ypsilantis Slogan, als sie den Aufbruch in die "Soziale Moderne" beschwor, aus der nun die "Solidarische Moderne" geworden ist. Von "Hermanns Reste-Rampe" schrieb deshalb im Internet ein hessischer Spitzen-Grüner, während der Grünen-Bundestagsabgeordnete Alexander Bonde den Namen "Ypsilanti-Institut für angewandte Kuba-Wissenschaften" vorschlägt. Überhaupt gab es eine Menge Spott und noch mehr Kopfschütteln für diesen Versuch einer politischen Wiedergeburt, vor allem in der eigenen Partei. Namhafte Vertreter der SPD-Linken fehlen jedenfalls.
Am Ende der vergangenen Woche waren es nach Angaben des Vereins dennoch bereits an die 800 Mitglieder, den Newsletter wollen angeblich mehrere tausend Interessenten beziehen. Wenn man all dem glauben darf, dann gibt es offenbar ein großes Bedürfnis, über die Fragen zu sprechen, die das Institut thematisieren will. Tatsächlich stehen im Gründungsaufruf viele Dinge, über die nachzudenken sich gerade in dieser Zeit lohnt - auch wenn sich unter den Mitgliedern Leute wie jener Mann im Wollpullover finden, der sich während der Diskussion in Halle meldet und verkündet, Hartz IV sei schlimmer als das Dritte Reich.
Um gerechtes Wirtschaften soll es gehen, um Verteilungsfragen in der postindustriellen Gesellschaft, ökonomisch wie ökologisch, um "die politische Alternative zum Neoliberalismus", wobei in einem solchen linken Kanon selbstverständlich die Frage nicht fehlen darf, wie sich "die kulturelle Norm der Heterosexualität gesellschaftlich durchbrechen" lässt. So viel Zeit muss sein.
Es ist auch nicht die Agenda des Instituts, die viele Sozialdemokraten lieber einen Sicherheitsabstand wahren lässt. Es ist vor allem die Person Ypsilanti. Zwar gibt es offenbar noch immer genügend Menschen, die in ihr eine geeignete Figur sehen, den ganz großen Fragen nachzugehen. Andere, die mit ihr gearbeitet haben, zweifeln das an. Ypsilanti war nie eine große Strategin, erst recht keine Theoretikerin. Sie konnte eine bestimmte Politik gut verkörpern, das ließ sie in eine Höhe aufsteigen, auf der sie sich noch immer sieht.
Dabei übersieht sie oft Höhenunterschiede. Das Gespräch mit Sahra Wagenknecht auf dem Podium in Halle dreht sich gerade um die SPD, Ypsilanti sagt, sie habe "sehr viel Hoffnung, dass diese Partei jetzt anfängt, sich zu besinnen". Politik müsse aufhören, an Stellschrauben zu drehen, und stattdessen "integriert denken". Dann ist Wagenknecht dran, sie redet über Leerverkäufe: "Seit Montag hat das Finanzmarktcasino wieder einen neuen Salon", sagt sie. Ypsilanti nickt kräftig.
Die beiden streiten nicht, sie tun sich nicht weh. Wagenknecht doziert und argumentiert, bis die Verstaatlichung von Banken als natürlichste Sache der Welt erscheint. Ypsilanti wirkt echt, wenn sie erzählt, warum sie im vergangenen Jahr den Karneval mied, als sie zur Unperson geworden war: "So tief kann man sich gar net ducken, um sich unter diesen Sprüchen wegzuducken." Geht es aber um politische Fragen, wird ein Klassenunterschied deutlich. Wagenknecht lächelt überlegen, während Ypsilanti über die Zukunft des Bankensektors redet.
Dann ist die Diskussion vorbei, die Frauen bekommen Blumensträuße und steigen von der Bühne. Ein Mann drängelt sich heran, er sagt, er wolle Frau Ypsilanti "mal ganz aus der Nähe sehen".
Sie ist eine Attraktion, noch immer, ihr Kampf geht weiter. Für die Solidarische Moderne, für eine Welt ohne Atomstrom und für ihren Ruf. Es gibt noch viel zu tun. CHRISTOPH HICKMANN