Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 17.03.2010

Kehrt die DDR zurück in die Städte und Gemeinden?

Von Gerhard Lemm, Oberbürgermeister von Radeberg
 
Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Kommentare und Analysen zu aktuellen Themen. Es sind Texte, die aus der ganz persönlichen Sicht des Autors Denkanstöße geben und zur Diskussion anregen sollen. Heute: Gerhard Lemm, Oberbürgermeister von Radeberg. Er analysiert die Finanzlage der Kommunen. Bund und Land haben Sachsens Städte und Gemeinden an den Rand des Abgrunds manövriert– zulasten der Bürger. Notwendig ist ein Rettungsschirm.

Es gab ein geflügeltes Wort, als im Zuge der Finanzkrise allenthalben Banken und Betriebe unter den Schutzmantel des bis dato viel gescholtenen Staates drängten: „Die DDR hat erst verstaatlicht und dann ruiniert. Wir machen das heute genau andersrum!“

Wir standen finanziell vor dem Abgrund, sind wir jetzt einen Schritt weiter? Ja, denn jetzt hat die Krise die Städte und Gemeinden und damit alle Bürger direkt erreicht. Ein neuer Satz könnte lauten: „Die DDR hat erst die kommunale Selbstverwaltung abgeschafft und dann Städte und Gemeinden ruiniert. Wir machen das umgekehrt.“ Das Ergebnis kommt, wenn nicht umgehend gegengesteuert wird, aufs Gleiche hinaus.

Mangels nötiger Erhaltungsinvestitionen wird die städtebauliche Substanz auf Verschleiß gefahren – vom Verschieben zwingender Investitionen auf den Sankt Nimmerleinstag ganz zu schweigen. Das Gleiche gilt für die weitere Unterstützung von Sport, Kultur, Bildung, Sicherheit etcetera. Wenn mangels Masse nichts mehr zu entscheiden ist, geht unsere hochgelobte kommunale Selbstverwaltung ins Leere.

Und während unten in den Städten und Gemeinden das Schiff zu sinken beginnt, spielt oben (Bund und Länder) das Orchester munter weiter. Gespielt wird das Lied vom steuerentlastenden, schuldengebremsten Staat mit reformierten Sozialsystemen und „gerechter“ Gesundheitspolitik, für deren Bevorzugung der Spitzenverdiener durch die Kopfpauschale wieder Milliarden an Steuern fällig werden. Titanic pur!

Schon die erste (letzte?) „kraftvolle“ Aktion der neuen Bundesregierung – die Begünstigung einzelner Klientelgruppen wie Hoteliers, Apotheker und Steuerberater – hat die Städte und Gemeinden 1,6 Milliarden Euro gekostet. Und das mit Zustimmung der sächsischen Staatsregierung im Bundesrat. Es handelt sich um die gleiche Staatsregierung, die jetzt in ihrem Haushalt 1,7 Milliarden Euro sucht – gewiss wieder zum Schaden der Kommunen.

Die drastische Kürzung der Jugendhilfe, deren Folgen in den Kommunen wir bei Streetworkern, Jugendclubs etcetera zu tragen haben, weist den Weg. Dass jeder hier gesparte Euro zudem auf Dauer ein Vielfaches im Sozialbereich an Mehrkosten erzeugt: Sei´s drum, es ist ebenso Sache der Kommunen.

Dabei haben Bundes- und Landesregierung die Städte und Gemeinden schon jetzt an den Rand des von Bankern, Zockern und gierigen Managern aufgerissenen Abgrunds gefahren. Die Finanzausgleichsmasse, aus der sich die Kommunen wesentlich mitfinanzieren, sank von 2008 zu 2009 um 186 Millionen Euro. Nach den schon jetzt bekannten Zahlen sinkt diese bis 2012 um weitere 869 Millionen – allein in Sachsen. Für das relativ kleine Radeberg heißt das konkret summa summarum 1,4 Millionen Euro weniger als 2008, bis 2011 ein Minus von 2,4 Millionen. Dazu kommt ein drastischer Einbruch der Fördermittel. Was tun?

Versuch 1: Rücklagen auflösen. Das ist schon passiert. Radeberg zum Beispiel musste durch den Einbruch bei den Fördermitteln bereits eine Schwimmbadsanierung sowie einen Grundschulsportbau aus den Rücklagen bezahlen – neben den Eigenanteilen zur Wirtschaftsförderung des Konjunkturpakets außerhalb der Finanzplanungen.

Versuch 2: Sparen. Nur wo? Beim Personal? Hier haben fast alle Städte und Gemeinden, auch Radeberg, bereits bis an den Rand des Vertretbaren abgebaut. Darunter leidet bereits die Aufgabenerledigung ebenso wie der Service für die uns bezahlenden Bürger. Soll das knappe Personal schlechter bezahlt werden? Prima, das wird Leistung und Service ganz sicher verbessern, zudem löst es unsere Probleme kaum. Die letzte Tariferhöhung etwa kostet uns in Radeberg, Kernverwaltung und Eigenbetriebe zusammen, gerade mal ein Drittel der durch die Finanzpolitik des Landes erzwungenen höheren Umlage an den Landkreis. Auch bei Bleistift, Papier, Heizung, Reinigung, Telefonkosten und Ähnlichem wird nicht mehr viel zu holen sein.

Versuch 3: Einnahmen erhöhen. Die Steuersenkungen des Bundes könnten durch Erhöhung der Gewerbe- und Grundsteuern konterkariert, Ansiedelungen von Unternehmen und Neubürgern erschwert werden. Dem Bürger, der durch die Reform des Bundes zu Jahresbeginn vielleicht entlastet wird, würde das Geld bei Abwasser, Trinkwasser, Müll, Benutzungsgebühren, Sport und Kultur gleich um ein Vielfaches wieder abgenommen. Mindestens bei den Gebühren würde das ohne Berücksichtigung der persönlichen Leistungsfähigkeit erfolgen.

Was bleibt sonst noch? Freiwillige Aufgaben wie Kultur und Sport könnten reduziert, also direkt in die Lebensqualität der Menschen eingegriffen werden. Erhaltungsinvestitionen könnte man unterlassen, also auf Verschleiß fahren. Nötige Investitionen müssten ausbleiben, also die Wirtschaft abgewürgt und Zukunftschancen aufgegeben werden. Das hieße konkret in Radeberg: Winterschäden nicht reparieren, Straßen, Leitungen und Kanäle, Sportstätten und Spielplätze verfallen lassen. Kinderbetreuung rechtswidrig versagen, da die erforderliche Kita nicht gebaut werden kann. Schulunterricht lehrplanwidrig erschweren, da notwendige Schulbauten nicht erfolgen. Brandschutz nicht gewährleisten, da ein nötiger Feuerwehrneubau zu streichen wäre. Vereins- und Kulturleben beschneiden, und so weiter und so fort. Kurzum: Die DDR wäre wieder da. Nur welche Wiedervereinigung rettete uns diesmal?

Das alles würde in einer Stadt geschehen mit weit unterdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit und hoher Steuerkraft. Man kann sich vorstellen, was anderswo los ist.

Aus diesem Befund ergeben sich Forderungen, die die Kommunen an die Regierungen stellen müssen.

Forderung 1: Rettungsschirm für Städte und Gemeinden

Als Banken in Not waren, gab es einen Rettungsschirm, den wir alle bezahlen müssen. Jetzt sind die Kommunen und damit direkt die Bürger in Not! Ein kommunales Sofortprogramm, diesmal anders als beim Konjunkturprogramm in der eigenen Verantwortung der Städte und Gemeinden wird gebraucht. Die hierfür wohl mindestens nötigen zehn Milliarden Euro sind angesichts des Bankenrettungsschirms, der mit 480 Milliarden des Bundes ausgestattet ist, als echtes Schnäppchen zu bezeichnen.

Forderung 2: Mitsprache bei der Gesetzgebung

Notwendig ist auch, dass ein Mitspracherecht der Kommunen bei der Gesetzgebung im Grundgesetz verankert wird. Die Forderung der Präsidentin des Deutschen Städte-tages, Petra Roth (CDU), ist völlig berechtigt. Ohne kommunale Zustimmung (etwa durch eine Kommunalkammer) dürfen keine die Städte betreffenden Gesetze in Kraft treten – weder im Land noch im Bund. Ansonsten werden Bund und Länder weiter im finanzpolitischen Wolkenkuckucksheim Gesetze machen, die alle Bürger vor Ort bezahlen müssen.

Forderung 3: Kommunen frei Entscheiden lassen

Der Wust an Verwaltungsvorschriften, Standards und Förderprogrammen ist radikal zusammenzustreichen. Vor Ort und in direkter Verantwortung dem Bürger gegenüber können die Kommunen am besten und am preiswertesten entscheiden, was wie zu tun ist. Manches Bauvorhaben würde deutlich billiger, wenn Vorschriften und Förderbedingungen die Städte und Gemeinden selbst entscheiden ließen.

Forderung 4: Staatliche Strukturen auf Effizienz prüfen

Der Sinn der Selbstverwaltung von Städten und Gemeinden wurde über Jahrhunderte hinweg unter Beweis gestellt. In den schwersten Zeiten unserer Geschichte gaben diese dem Staat Halt und Struktur, den Bürgern Versorgung und Heimat. Dies gilt in diesem Maße für keine andere Verwaltungsebene. Die Konsequenzen können hier nur angedeutet werden. Wie viele Regierungspräsidien oder Landesdirektionen braucht Deutschland? Wie viele Minister, wie viele beamtete oder parlamentarische Staatssekretäre? Wie viele Oberfinanzdirektionen, wie viele Bundesländer? Brauchen wir 16 Landeswirtschaftsminister nebst Staatssekretären zusätzlich zum Bund? Sind 16 Kultusminister wirklich notwendig?

Es gibt viele Möglichkeiten, den Staat effizienter zu machen. Wie sie genutzt werden, hängt davon ab, wann Bund und Länder den Niedergang der Städte, Gemeinden und Kreise wahrnehmen. Ohne lautes Geschrei wird dies nicht gehen. Stellvertretend für die Bürger müssen sich alle Bürgermeister und Landräte, alle Kreis-, Stadt- und Gemeinderäte parteiübergreifend, mit einer Stimme und laut genug zu Wort melden.

Karl Nolle im Webseitentest
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