DNN/LVZ, 17.04.2010
Stockschläge und Schikanen
Ein ehemaliges Heimkind aus Thammenhain erhebt schwere Vorwürfe gegen katholische Kirche (im Anhang der schockierende Bericht eines Betroffenen)
Dresden. Neue Missbrauchs-Vorwürfe in einem sächsischen Kinderheim: Zu DDR-Zeiten seien in der katholischen Einrichtung Thammenhain bei Wurzen Heimkinder systematisch drangsaliert und gedemütigt worden, berichtet ein ehemaliger Insasse. Fast täglich hätten Kinder Stockschläge und andere Bestrafungsmethoden von Schwestern und Erzieherinnen über sich ergehen lassen müssen.
Das Martyrium begann ganz harmlos. Im Jahr 1957 wurde der damals Elfjährige für drei Wochen nach Thammenhain geschickt. Alles schien in Ordnung zu sein. Stattlich war das Anwesen, eine Art Kuraufenthalt in schöner Umgebung. Rund 30 Kinder hätten sich damals im Erdgeschoss aufgehalten, sagt Rolf P. (Name von der Redaktion geändert). Von weiteren Kindern in oberen Stationen, der einen für Knaben im ersten sowie der anderen für Mädchen im zweiten Stock, sei im Erholungsheim nichts zu sehen gewesen.
Was in der ersten Etage passierte, erfuhr er dann wenig später – nach seiner Einlieferung. „Ohrfeigen waren an der Tagesordnung“, berichtet Rolf P. Üblich gewesen seien auch Stockschläge auf Finger, Fußsohlen und nackten Po. Formal firmierte die Knabenstation als Heim für schwer erziehbare Kinder und Waisen. Auch hier hätten sich rund 30 Jungen befunden, darunter viele aus der Region – aus Eilenburg, Leipzig oder Altenburg. Alle Kinder erhielten Nummern, Ruhe und Disziplin seien die obersten Gebote gewesen. Das gesamte Personal habe aus Frauen bestanden, zum Teil katholische Schwestern, aber auch Erzieherinnen ohne Tracht.
Insgesamt zwei Jahre habe der Aufenthalt gedauert, lange genug, um das Erlebte nie mehr zu vergessen. Bereits am ersten Tag kam es zum Eklat, sagt Rolf P. So sei er am Essenstisch dazu gezwungen worden, ein anderes, kleineres Kind zu schlagen. „Es folgten unermesslich viele Strafen, Schikanen und Herabwürdigungen.“ Oft hätten die Schwestern ältere Jugendliche benutzt, um die Jüngeren abzustrafen. Dabei habe sich eine Schwester durch besondere Brutalität ausgezeichnet. „Sie war der Schrecken aller, überwachte die Schularbeiten und schlug auf jeden, der seinen Kopf hob.“
Thammenhain diente spätestens ab 1948 als Kinderheim. Die Schlossherren waren zu DDR-Zeiten enteignet worden, Rechtsträger war der Caritasverband. Mitte der 70er Jahre wurde das Kinderheim geschlossen, heute ist das Schloss wieder in Privatbesitz. Über 20 Jahre lang, von 1948 bis 1970, aber hatte nicht die Caritas, sondern ein Orden den Hut auf, jener der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Karl Borromäus. „Die Borromäerinnen waren für wirtschaftliche, pflegerische und erzieherische Maßnahmen zuständig“, sagt Matthias Mitzscherlich, Direktor des Caritasverbands, auf Anfrage.
Seraphina Teubner, Oberin der Borromäerinnen mit Sitz in Görlitz, bestätigt das Engagement der Ordensschwestern in Thammenhain, von möglichen Missbrauchsfällen aber sei ihr nichts bekannt. Dem kindlichen Opfer dagegen haben sich die Folgen der Prügelpädagogik jener Tage tief eingeprägt. Das übelste Erlebnis kreist um einen missglückten Fluchtversuch. Dabei habe er es bis Wurzen geschafft, sei aber eingefangen worden. Daraufhin habe er auf Knien die Parkettstäbe im Festsaal polieren müssen. Anschließend musste er sich nackt in ein Fußwaschbecken mit fließendem kalten Wasser stellen. Folge: Am nächsten Tag sei er in einem Bett voller Blut aufgewacht – ein Blutsturz, wie er heute vermutet. Darüber hinaus gehende, unmittelbar sexuelle Übergriffe habe es aber in Thammenhain nicht gegeben.
Nach zwei Jahren sei er wieder in seinen Heimatort zurückgekommen. Die Kirche allerdings habe kein Interesse an Aufklärung gezeigt. Im Gegenteil: Von einem Erzpriester sowie einem Kaplan sei er aufgefordert worden, über seinen Heimaufenthalt zu schweigen. Er habe dies als klare Drohung verstanden. Auch deshalb habe er mehrere Zusammenbrüche und eine Nervenentzündung davon getragen.
Ermuntert durch bekannt gewordene Missbrauchs-Fälle in anderen Heimen bricht der Mann jetzt sein Schweigen und fordert „eine klare Entschuldigung“ von der katholischen Kirche. Zwar seien die Vorfälle verjährt, die meisten Täter tot. Entschädigung sei dennoch angemessen – vor allem moralisch. „Noch heute habe ich unter den Folgen des physischen und seelischen Terrors sowie den unbeschreiblichen Demütigungen in dem Horrorheim zu leiden“, meint Rolf P. Er sei zwar weiter ein tief gläubiger Mensch, Gerechtigkeit aber sei nötig.
Das Bistum Dresden-Meißen reagiert mit Betroffenheit. „Es ist für uns immer tragisch, wenn gegen kirchliche Einrichtungen solche Vorwürfe erhoben werden“, sagt Sprecher Michael Baudisch auf Anfrage. „Wir werden versuchen, das aufzuarbeiten.“ Auch für Caritas-Direktor Mitzscherlich ist es „bedauerlich, nicht zuletzt für die Betroffenen“. Für diese gebe es Gesprächsangebote von Seiten der Kirche.
Jürgen Kochinke, Landeskorrespondent
(Die zahlosen aktuellen Berichte über Kindesmißhandlungen und Mißbrauchsfälle auch in Sachsen haben einem bis heute traumatisieretem Opfer Mut gemacht sich mit seinem ergreifenden Erlebnisbericht an mich als Landtagsabgeordneten zu wenden. Hier ist sein Bericht. Den Namen habe ich auf Wunsch des Betroffenen geändert. Karl Nolle, MdL)
Rolf P.
Schmerzliche Erinnerungen an die "Barmherzigen Schwestern vom heiligen Karl Borromäus" - Eine Persönliche Lebensgeschichte
Zum zweijährigen Aufenthalt im katholischen Kinderheim Thammenhain bei Leipzig in der Zeit von 02.01.1957 bis 12/1958
Thammenhain am 04.03.2009
Die Vorgeschichte
Als Kind im Alter von einem Jahr wurde ich mit meiner älteren Schwester bei meinen Großeltern in Reichenbach/Vogtland der sowjetischen Besatzungszone abgeliefert. Dort bin ich im Wesentlichen aufgewachsen. Erst im Alter von 6 ¼ Jahren lernte ich meine Mutter mit meinem jüngeren Bruder kennen, die von Dietfurt (Bayern) nach Reichenbach umsiedelten und ebenfalls mit bei den Großeltern lebten. Die Frau, die sich meine Mutter nannte, änderte mein Leben und bekam mit allen durchsetzenden Mitteln, der Züchtigung, das christliche Leben näher beigebracht. Wenige Jahre nach dem Wechsel meiner Mutter von West nach Ost wurde seitens der DDR die Ehe meiner Eltern für geschieden erklärt. Mein Vater lebte in der Bundesrepublik, prozessierte und erhielt das Erziehungsrecht. Selbst lernte ich meinen Vater nie kennen. Sein Aufenthaltsort galt als unbekannt. Mein (Stief)Großvater wurde als Vormund eingesetzt. Die Großeltern waren privat Unternehmer und hatten eine Spedition und Kohlenhandlung mit vielen Sorgen und Problemen, die das sozialistische System bereitete. So brachten die geschäftlichen, wie auch private Probleme täglich das Fass zum überlaufen. Selbst wurde ich täglich zur Arbeit, teils bis in die Nacht herangezogen Wagons auszuladen, letztlich mit schweren gesundheitlichen Folgen. Auch meine schulischen Ergebnisse waren nicht die Besten, da Schularbeiten in dieser Familie keinen Platz hatten. Einerseits wollte ich nicht Christ werden, weil ich es nicht kannte und andererseits kam mir aus Gründen der vielen Arbeit die Kirche sehr gelegen und wurde ein fleißiger Ministrand und ließ keinen Gottesdienst oder kirchlichen Feiertag aus. Das sorgte für neue Probleme mit der Schulleitung. Lehrerbesuche waren keine Seltenheit, indem mein kirchliches Verhalten zum Streitpunkt wurde. So war ich als einziger Schüler kein Mitglied der FDJ (Freie Deutsche Jugend). Selbst zum Fahnenappell musste ich so manchen Montag um 8:00 Uhr vortreten: „Der Hund Laika und der Der Kosmonaut Juri Gagarin haben zum Fenster hinausgeschaut und hatten keinen lieben Gott gesehen“, der Schulhof tobte, ich wurde nur noch sturer, was sich erneut auf mein zuhause auswirkte. Streit und Diskussionen, dass der Platz im Haushalt für so viele Familienmitglieder nicht ausreichte, erreichten einen neuen Höhepunkt. Weil es keine Wohnungen gab, lebten auch mein Onkel (Stiefbruder meiner Mutter) und die Schwester des Großvaters mit im Haushalt. Zudem war meine große Schwester der absolute Liebling der Großmutter und mein jüngerer Bruder das unantastbare Nesthäkchen der Mutter.
In viele Streitgespräche bekam ich am Rande mit, dass zwingend meine Zustimmung erforderlich sei. Aber für was? Der Großvater wurde mit seiner Krankheit Herzasthma von der Großmutter mit Medikamentenentzug erpresst und die Mutter forderte vom Großvater eine Zustimmung, die er einfach nicht gab. Eines Tages brachte meine Mutter eine Frau, sie war von der Caritas. In der Wohnstube, die sonst keiner betreten durfte, wurde ich von meiner Mutter und von dieser Frau schwerst bearbeitet. Ich sollte meine Zustimmung für einen Erholungsurlaub in einem Kinderheim geben. Ich hörte, mein Großvater hatte in der Küche erneut Streit, es ging um mich. Es hat etwas mit meiner Zustimmung zu tun, die ich der Frau von der Caritas nicht gab. Wenige Wochen später wurde ich krank. Meine Mutter brachte eine andere Frau der Caritas mit, die mich erneut massiv unter Druck setzte. Mir wurde schmackhaft gemacht, wie schön es zur Erholung sein kann. Wenn ich wieder gesund bin, kannst du deinen Großvater eine bessere Hilfe sein. Der massive Druck und die Bemerkungen „es sei um meine Gesundheit sehr ernst bestellt, sie würden mich auch sofort zurückholen, auch könne ich bei Bedarf ein wenig bleiben“ führten dazu, dass ich einwilligte. Dieses geschickte Bombardement hat meinen Willen gebrochen und sie begannen zu handeln. Schnell war der Koffer gepackt und bereits am nächsten Tag wurde ich nach Thammenhain zur Erholung gebracht.
Das Kinderheim
Es war ein Schloss mit großem Schlossteich und Erholungsheim für viele Kinder. Andere Kinder und Jugendliche habe ich während meines Erholungsaufenthaltes nicht gesehen. Der Erholungsurlaub verging sehr schnell. Zwischendurch wurden wir Kinder daran erinnert, dass wir unseren Eltern schreiben sollen, auch ich wurde angemahnt zu schreiben, fast auffällig. Gegen Ende der Erholungszeit wurde ich nunmehr gezwungen meiner Mutter mitzuteilen, wie es mir zur Erholung gefällt und soll eine Antwort dazu geben, ob ich gerne länger in Thammenhain bleiben möchte. Die Heimschwester saß neben mir auf dem Tisch und ist meinen Worten auf der Briefpost gefolgt. Es folgten Ereignisse, die sich in mir fest eingebrannt haben. Ich schrieb: „… es ist hier sehr schön und würde gerne länger bleiben.“ Die Post wurde mir regelrecht von der Schwester aus der Hand gerissen und ich durfte nicht einmal den Punkt zum fertigen Satz setzen, geschweige meine Post vollenden. Was habe ich falsch gemacht und habe bitterlich geweint. Die Schwester verließ das Zimmer, ging zur Oberin und kam wenige Minuten mit einer anderen Schwester zurück. Wie ein Verbrecher wurde ich am Oberarm gepackt und aus dem Zimmer in eine andere Station zerrte. Jetzt schoss es mir durch den Kopf, welchen Fehler ich gemacht habe, meine Zustimmung.
Plötzlich gab es noch mehrere Kinder im Heim die weggesperrt sind. Es folgte die Einweisung: „Das ist die Knabenstation für schwer erziehbare Kinder und Waisenkinder. Du bist ab jetzt „K30“, merke dir das. Alle deine Sachsen sind mit K30 zu kennzeichnen. Hier herrscht absolute Ruhe, Ordnung, Disziplin und strenge Einhaltung der Normen. Dies sind: Stille, Pünktlichkeit und absoluter Gehorsam. Wasche dir die Hände, gleich gibt es Essen. Nach dem Essen wirst du deine Garderobe einräumen, klar.“ Es ist Essenszeit. Zunächst das Tischgebet, alle setzen sich geräuschlos. Mein Besteck fehlt. In Zeichensprache bekomme ich vom Nachbarn den Tischkasten gezeigt. Ich ziehe auf, es quietscht, Tasse und Besteck alles ist mit K30 gekennzeichnet. Der absolute Schock. Die Schwester plötzlich: „K30 vor“! Ich habe keinen Namen mehr. Mein Platz ist in der Mitte der zum U aufgestellten Tafel. Es dauert nicht lange, dann schreit der Kleinste an der Tafel auf. Er wurde getreten und rufte „aua“. Die Strafe: Wir müssen uns gegenseitig ohrfeigen. Ich will kein kleineres Kind schlagen. Ich werde gezwungen die erste Ohrfeige zu geben. Es ist ein streicheln. Der Kleine haute nicht schlecht hin. Nach drei Ohrfeigen weinte ich. Zum Essen ist es zu spät, es folgt das Dankesgebet. Ich habe Hunger. Still räume ich meine Garderobe ein und bin stolz, weil er sich nicht von den anderen Schränken unterscheidet. Die Schwester kommt, lässt sich meinen Garderobenschrank zeigen, ohne zu schauen wird dieser nach vorn gekippt. Es folgt ein durchfahrender Schrei, „noch mal und jetzt ordentlich!“ Das waren nur die ersten zwei Stunden als Neuer in der Knabenstation.
Es folgten unermesslich viele Strafen, Schikanen, Demütigungen und Herabwürdigungen bis die unermessliche Zahl an Normen und Verhaltensregeln gelernt waren. Ohrfeigen war fast täglich an der Tagesordnung und schnell lernte ich die Schlagtechnik, die wie eine Ohrfeige aussehen musste. Auch habe ich begriffen, dass es hier keine Hilfe gibt. Jeder war gnadenlos und sich selbst der Nächste. Nicht nur die Schwestern lassen sich stets neue Strafen einfallen, sondern bedienten sich unter anderem Helfern. Es waren große Jugendliche, die abstrafen durften oder sogar neue Strafen einbrachten. So galt es alles zu Tun ohne nachzudenken, alles in absoluter Stille zu verrichten und keine Risiko eingehen, womöglich eine Fragen zu stellen. Als Selbstschutz galt es, alles im Umfeld genauestens zu beobachten, um von bösen Überrumpelungen nicht überrascht zu werden.
Es gab eine Ordnung der Stärksten bis zu den Schwächeren. Dazwischen gab es Gruppierungen, die auch denunzierten. Selbst war ich ein Einzelgänger und habe Respekt bekommen durch Situationen mit erfolgreicher Verteidigung. Wenn Verteidigung, dann nur aus der Überraschung heraus und nicht aus der Wut. Nur machte mir mein Erfolg Angst, denn meine Verlierer hatten erhebliche Verletzungen zu ertragen. Als Strafen kam in der Regel Ohrfeigen, Schläge mit dem Stock auf Finger, Fußsohlen, nackten Po, Hungern, Stehen ohne zu rühren, mitunter auch nackt im eiskaltem Wasserbad (frieren) an einem Platz für mehrere Stunden stehen. Missachtung führte zu noch härteren Strafen. Wenn, dann musste mit Beginn der Bettruhe (8.00 Uhr ) bis spät in die Nacht die Heimordnung mehrfach abgeschrieben werden. Das war noch die sanfte Form. Härter wurde es, wenn in der Nacht die Reinigung der Toiletten, Speise- Wasch- und Schlafräume und der Fußböden angesagt war. Diese mussten staubfrei, ohne Schlieren mit Hochglanz übergeben werden. Nach mehreren Abstrafungen haben wir die Abnahmeschikanen kennen gelernt und wurden stets von neuem überrascht. Schlimmer war die Müdigkeit. Die absolute Steigerung war das polieren der einzelnen Parkettstäbe im Festsaal. Der Saal wurde gewachst und damit matt. Kniend musste jeder einzelne Parkettstab mit einer harten Bürste poliert werden. Aufstehen galt nicht. Nach vielen Stunden der Nacht haben Knie und Hände kein Gefühl mehr gehabt. In den Waschraum und ins Bett ging es förmlich auf allen Vieren. Die Schwestern haben mich beschimpft, zugeschaut und dabei gespottet. Einen aufrechten Gang hatte der Schmerz nicht zugelassen. Am nächsten Tag durfte gegen das Licht kein Unterschied erkennbar sein, sonst galt es, am Abend das Selbe noch einmal - polieren.
Eines Tages reif die Schwester K30 auf, „deine Mutti ist da“, Du hast nur wenig Zeit und meldest dich gleich wieder zurück. Deine Mutter wartet nicht am Eingang sondern du musst an das Parkende gehen, dort wartet deine Mutter“. Die Zeitvorgabe war sehr knapp bemessen. Am Ende vom Park stand ein Taxi. Meine Mutter eröffnete die Autotüre und erklärte mir, dass sie gleich weiter müsse und nicht ins Kinderheim durfte. Das Taxi fuhr die Dorfstraße hin und zurück. Meine Mutter erzählte von einer Welt die mir fremd geworden ist. Mein Wunsch nach hause zu dürfen wurde abgetan, das geht nicht. Mein Bruder saß mit im Taxi. Er futterte eine Banane (unvorstellbar) und las im Comicheft. Er berichtete mir, was er alles hat. Es war mir als wäre er von einem anderen Stern. Schon stand ich wieder am Schlosspark und musste zuschauen wie das Auto durch die Baumallee sich in Richtung Wurzen entfernte.
In der Regel sah der Tagesablauf folgendes vor: Sehr früh war Wecken (6:00 Uhr). Innerhalb von 20 Minuten musste das Bett faltenfrei und im makellosen Zustand gebracht werden sowie Waschen und Anziehen. Fehlerhafte Betten wurden bis zum Bretterrost eingerissen und zu Spätkommen galt auch nicht. Pünktlich begann das Morgengebet. Das Frühstück bestand aus einer Tasse Mehlsuppe, die in der Regel angebrannt war und einer Schnitte Brot nur mit einem Hauch Marmelade. Zur Schule hatten wir nur 20 Minuten Zeit. Auch außerhalb des Heimes galten Normen, etwa für die Dauer des Schulweges, aber auch für das Verhalten auf dem Weg und in der Schule. Nach der Schule gab es Mittagstisch mit Gebeten vor und nach dem Essen. Beim nicht verursachten unbegründeten längeren Schulaufenthalt, andere Vorkommnisse am Vormittag oder Verstöße gegen die Norm, wurden in der Regel zum Mittagstisch abgestraft. Essen gab es dann auch nicht. Vorkommnisse am Vormittag waren Bummeln auf dem Schulweg, falsche oder fehlende Schulaufgaben, mangelndes Benehmen in der Schule, unerlaubtes versenden von Post oder auch außerschulische Kontakte zu Kindern des Dorfes.
Dann galt es unaufgefordert das Hausaufgabeheft vorzulegen wegen möglicher Einträge der Lehrer. Unverzüglich galt es die Schularbeiten zu fertigen. Eine ausgewachsene Schwester, der Schrecken aller, überwachte die Schularbeiten und schlug auf jeden, der seinen Kopf hob oder sich bewegte, mit einem Stock ein. Dabei traf es stets Unschuldige. Hysterisch ausrastend mit Stckschlägen wurde die Schwester, wenn ich für eine Aufgabe oder einer Lösung ins stocken geriet und Hilfe benötigte. Manchmal war die falsche Antwort die billigere Lösung der Bestrafung.
Etwa gegen 15:00 Uhr habe ich mich zur Arbeit melden müssen. Während der Schulzeit waren die Tätigkeiten auf das Umfeld des Kinderheimes beschränkt. Dem Heim waren auch ein Altersheim und ebenfalls eine Mädchenstation angeschlossen. Daher gab es stets Arbeit, etwa wie Asche umsetzen, Park von Laub und Ästen reinigen, Wäsche waschen und Räume reinigen, Stopfen und Nähen. An Tagen mit wenig Schulunterricht, Ferientage oder an Wochenenden (Samstags) wurden ich bei Landwirten eingesetzt, etwa zum Heu wenden, Rüben verziehen, Gemüsepflanzen stecken und ernten sowie zur Obst- und Kartoffelernte. Mit mehreren Kindern wurde ich unter steter Aufsicht zu den Landwirten gebracht und auch abgeholt. Entfernen vom Feld stand unter strengster Strafe. Mein Eindruck war, dass auch die Landwirte, oder wer es auch immer war, einen perfekten Bericht zu den Leistungen und zum Verhalten an das Kinderheim abgaben. Bereits mit der Rückkehr ins Kinderheim wurde unverzüglich getadelt und eine Strafe festgelegt. Lob war nicht zu erwarten. Gelegentlich versuchte ich vom Feld zu verschwinden um Post, an allem vorbei, nach hause schicken zu können. Meine Briefe waren Bettelbriefe, um nach hause zu dürfen, aber keiner erhörte mich. Im Ort selbst war es unmöglich einen Brief direkt bei der Post abzugeben oder im Briefkasten einzuwerfen, dieser lag spätestens am nächsten Tag dem Kinderheim vor. Das war eines der schlimmsten vergehen. Daher habe ich es auch über die Nachbarorte versucht, leider ebenfalls ergebnislos und mit nachteiligen Kensequenzen. Was ich nicht einsehen konnte, dass ich meine Post offen den Schwestern aushändigen musste. Erst wenn der Brief keinen Hinweis über die Zustände im Heim oder keine Wünsche zum Inhalt hatte, etwa ich möchte nach hause, dann wurde dieser von den Schwestern geschlossen und eingesammelt.
Gleich am Anfang meines Aufenthaltes im Kinderheim hatte ich Geburtstag und bekam ein Päckchen geschickt. Zu meiner Überraschung einen Aschkuchen, eine Tüte Bonbons und was ich bisher nicht kannte, eine Kokosnuss. Die Schwester kam ins Zimmer: „K30 Post“ und hielt ein offenes Päckchen im Arm. Sie verlies das Zimmer und ging ins Treppenhaus: „Kinder“, dann wurde das Päckchen die Treppen hinuntergeworfen. Dieses Zeremoniell kannten bereits alle, nur ich nicht. Die Nuss zersprang in mehrere Stücke, der Kuchen zerbröselte und die Bonbons waren weg. Gesehen habe ich davon nichts. Ich war sprachlos und durfte keinen Laut von mir geben, wegen der absoluten Stille. Dann durfte ich das Treppenhaus reinigen. In meinem nächsten Brief habe ich geschrieben, dass ich kein Päckchen mehr haben möchte. Nachbessern musste ich, dass hier im Heim für alles gesorgt ist.
Die Folge der Unerträglichkeit war, dass mehrer Ausbrüche aus dem Kinderheim folgten. Die ersten Ausbrüche erfolgten am Tag, die mir wenig Vorsprung verschafften. Schnell war ich wieder im Kinderheim und wurde von allen isoliert in einer dunklen Kammer eingesperrt. Am Abend folgte die härteste Strafe, Festsaal polieren. Es folgten alsbald weitere Ausbruchversuche, nachts über das Fenster am Blitzableiter und Regenfallrohr herunter. Ausbrüche waren im Heim mehrfach an der Tagesordnung, keiner gab einen Tipp zu seinen Erfahrungen und keiner hat etwas gesehen oder gehört. Es gab auch schwere Unfälle, Bein- und Schulterbrüche etc. Dieses Mal war der Vorsprung schon erstaunlich besser, denn ich bin bis nach Wurzen bei Leipzig gekommen. Im Ergebnis musste ich als Strafe wieder, Festsaal polieren. Die Schmerzen die ich erlitt haben die absolute Ruhe gestört. Als erneute Strafe, während die anderen Kinder ins Bett gingen, musste ich mich nackt in ein Fußwaschbecken mit fliesendem kaltem Wasser stellen. Ich habe geschrieen vor Schmerzen, was mit kräftigen Stockhieben beantwortet wurde. Nach langer Zeit der Strafe konnte ich selbst nicht mehr aus dem Becken steigen und laufen und habe mächtig gezittert. Steif wie ein Brett wurde ich ins Bett getragen. Als ich aufwachte war es ein anderer Tag am Nachmittag. Was es bisher nicht gab, plötzlich standen alle Kinder der Station um mein Bett herum. Sie berichteten, dass ich über einem Tag nicht ansprechbar war und ein total neues Bett bekommen habe. Laken, Zudecke und Kopfkissen waren übervoll von Blut – ein Blutsturz. Auch das neue Bettzeug war erneut voll von Blut. Jetzt bekam ich mit, dass es sehr ernst um mich stand. Die Schwestern taten so als hätte es nie eine Strafe gegeben. Ich erhielt etwas mehr zu Essen und die Strafen wurden etwas zurückgenommen. Auch konnte ich auf dem Schlossboden mein blutiges Bettzeug, das zum trocknen aufgehängt war, sehen. Dennoch stand ich unter strenger Beobachtung, was einem möglichen Kontakt nach hause betraf.
Es war wieder Erntezeit und ich musste wieder auf das Feld. Dieses Mal bevorratete ich mich und legt im Schlosspark eine Miete mit Möhren Rettiche und Kartoffeln an. Es kam der Winter und die Zeit für meinen Ausbruch ist gekommen. Fest habe ich mir vorgenommen nicht den direkten Weg in Richtung Reichenbach (Süden) einzuschlagen sondern in Richtung Hohenburger Berge (Norden) und möglichst in keine Stadt zu gehen. Meine Verpflegung war das Winterlager an Gemüse. Wie ich es bis Zwickau schaffte, habe ich nur leise in Erinnerung. Laufen, laufen, laufen und dann ein Auto, flüchten ging nicht mehr, das mich in der Nacht auf der Landstraße auflas und mich ein Stück mitnahm. Kaum ein Mensch in der Stadt und auf dem Bahnhof in Zwickau. Ich stand spät in der Nacht auf dem Bahnsteig und war völlig am Ende meiner Kräfte. Ein Mann im grauen Anzug, unerklärlich, den ich als Kriminaler hielt und mich zurückbringen könnte, aber dennoch Vertrauen spürte. Er gab mir eine Fahrkarte und erklärte mir ganz genau wie viele Haltestellen es bis Reichenbach sind. Ein Geschenk Gottes oder war er es persönlich? Ich machte es mir um Zug bequem und zog meine Schuhe aus. Es herrschten in Zwickau eisige Temperaturen. Die Anzahl der Stationen stimmte ganz genau, Reichenbach. In Reichenbach angekommen liegt viel Schnee und klirrende Kälte (> -10° C). Mein bisschen Habe habe ich genommen und lief zum Haus meiner Großelter, etwa 20 Minuten Weg. Ich höre noch das Knirschen unter meinen Füßen. „Wo kommst du her, die Polizei sucht nach dir, du musst sofort zurück.“ Ein höllischer Streit brach aus, die Fetzen flogen. Dann haute der Großvater auf den Tisch, der Bub bleibt da. Er übernachtet heute im Stall, im Heu. Am nächsten Morgen gab es nur eine Sorge ich hatte keine Schuhe mehr, die sind im Zug weiter gefahren. In Sommerschuhen musste ich zum Bahnhof gehen und eine Anzeige aufgeben. Es war mir peinlich, denn alle lachten. „Das kann es doch bei der Kälte nicht geben, aber wir nehmen deine Anzeige auf.“ Wieder zuhause zurück, es ist vorübergehend Frieden eingekehrt und ich durfte in Reichenbach bleiben.
Im Nachgang
Ich lebe bereits in Reichenbach, aber die Gedanken an das Kinderheim lassen mich einfach nicht los, sie verfolgen mich. Die alten Klassenkameraden der Schule haben mich gern aufgenommen. Alle wollten wissen, wo ich war und wie es im Kinderheim ist. Auch in die Kirchgemeinde der katholischen Kirche bin ich zurückgekehrt, auch hier die gleichen Fragen. Nur mit dem Problem, dass ich mit meiner Rückkehr vom Erzpriester sowie vom Kaplan aufgefordert und verboten wurde, über meinen Heimaufenthalt im Kinderheim nicht zu sprechen. Trotz Zurückhaltung gab ich dennoch einiges preis. Wiederholt wurde ich von der Kirche angesprochen, „du sollst über das Kinderheim schweigen oder es wird dir nicht gut bekommen“. Angst kam auf und ich nahm diese Drohung sehr ernst und hatte jetzt ein Problem. Nach meiner sehr strengen kirchlichen Erziehung im Kinderheim gab es nur die Überlegung, raus aus der Kirche und was nun?
Letztlich habe ich mich getröstet, wenn es einen lieben Gott gibt, dann brauche ich keine Kirche, beten kann ich überall, er erhört mich auch dort. Kurz nach meiner Rückkehr erkrankte ich an einer schweren Nervenentzündung in Folge des Aufenthaltes im Kinderheim. Der Arzt entschied, dass ich nicht transportfähig bin und zuhause ruhig gestellt werden müsse. Bilder und Vorhänge wurden aus dem Zimmer entfernt. Nach einem dreiviertel Jahr kam ich ins Heinrich Braun Krankenhaus Zwickau zur Untersuchung und zu einem Test ob eine nervliche Schädigung vorliegt. Weiter Nervenzusammenbrüche folgten. Im Ergebnis wurden charakterliche, sprachliche und gefühlsmäßige Verklemmungen sowie ein kaputtes Rückrat festgestellt. Zudem trat ein zeitlicher Verlust in der Schule ein. Ich musste das Schuljahr noch einmal wiederholen. Erst als ich nach der Lehre mein zuhause verlassen habe halfen mir fremde Menschen, die heute meine Schwiegereltern sind. Sie haben geholfen mein kompliziertes und verkorkstes Leben aufzuarbeiten und neu zu ordnen. Nur mit ihrer Hilfe ist es langsam in mir bewusst geworden, dass ich keine menschlichen Gefühle kannte und habe noch heute meine Schwierigkeit damit. Vor allem war ich von einer unbeschreiblichen Art an Misstrauen gegen jedermann geprägt. Hinter jeder Person, jedem Gespräch oder Bewegung, konnte möglicherweise eine Handlung gegen meine Person sein. Nur langsam habe ich Vertrauen neu erlernen müssen. Nur mit Hilfe meiner Schwiegereltern, der Liebe meiner Ehefrau Martina und meiner Kinder Ingo und Bettina habe ich weitestgehend ein normales erreichen können.
Mit vollendetem 21. Lebensjahr begrüßte mich in einem Schreiben das Jugendamt Reichenbach als Bürger der DDR. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich Bürger der Bundesrepublik, ohne es zu wissen. Dies erklärt auch die zwingend erforderliche eigene Zustimmung oder die meines Vormunds dem Großvater. Meinen Vater habe ich nie kennen lernen dürfen und habe ebenfalls prägende Erfahrungen mit dem Staatsapparat hinnehmen müssen. Ein eigenes Kapitel.
Etwa 1995 wurde ich vom Landrat Kreis Reichenbach, Herrn Bienert, angesprochen. Wir stellten fest, dass wir uns von der Kirche in Reichenbach kannten. Dann fragte er mich: „Kannst du dich daran erinnern, dass du im Winter eine Suchanzeige für ein Paar Schuhe auf dem Bahnhof Reichenbach aufgegeben hast“. Ich bestätigte. Herr Bienert war seinerzeit als Elektriker auf dem Bahnhof Reichenbach tätig und hat das Geschehen beobachtet. „Wusstest du, dass deine Schuhe gefunden wurden!“
Im Sommer 1997 war ich dienstlich im Raum Leipzig tätig und überwand mich den Ort des Terrors zu besichtigen. Vorsichtig habe ich nach dem Erholungsheim gefragt, um nicht gleich zur Türe hineinzufallen. Letztlich leugneten die Schwestern hartnäckig, dass jemals im Schloss ein Kinderheim oder ein Erholungsheim war. Im Park fand ich einen Rentner aus dem Altersheim und hatten eine nette Unterhaltung. Er erinnert sich noch sehr gut an die Heimkinder, die sehr fleißig geholfen haben und den schönen Park gepflegt haben. Er berichtete, dass unmittelbar mit dem Tag der Grenzöffnung, förmlich über Nacht, das Heim komplett geräumt wurde. Im Altersheim habe man sich gewundert, warum dies wohl sei. Eine Antwort haben sie von den Schwestern nie erhalten. Wenn es eine Antwort gab, dann: „Sie sollten schweigen und nicht solche Fragen stellen.“
Ohne näher auf die Besonderheiten der familiären Tragödie meiner Herkunft einzugehen, verweise ich auf einen Bescheid vom Kreissozialamt Vogtland, dass auf Grund seelischer Grausamkeit und besonderer Härte und in besonderen schwierigen Fällen, aus grob unbilligen Gründen, meine Muter durch ihr Verhalten einen Unterhaltsanspruch verwirkt hat. Ich bin von meinen Verpflichtungen gegenüber meiner Mutter vom Sozialgericht befreit worden.
Liebe, menschliche Wärme und Geborgenheit, die ich nie zuhause bekam, setzten sich ungebrochen mit physischen und seelischen Terror, Kindesarbeit und unbeschreiblichen Demütigungen in dem Horrorheim, das sich katholisches Kinderheim Thammenhain nannte fort. Lüge und Nächstenliebe scheint es für die Kirche, die ich kennen gelernt habe, nicht zu geben.
Für die Kirche als stets auftretender Moralapostel, scheint die Unantastbarkeit der Würde des Menschen ein Fremdwort zu sein. Viele Jahre meines Lebens wurden mir genommen. Dennoch bin ich ein sehr gläubiger Mensch geblieben.