spiegel-online.de, 15.06.2010
Bröckelnde Mittelschicht
Soziologen fürchten Erosion der Gesellschaft
Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, die deutsche Mittelschicht schrumpft rapide. Soziologen und Ökonomen warnen vor verheerenden Folgen: Sie fürchten soziale Resignation, Elendsquartiere in den Großstädten und eine Zunahme des gesellschaftlichen Gewaltpotentials.
Hamburg - Es waren die heftigsten Krawalle seit Jahren. Am 1. Mai riegelten Vermummte das Hamburger Schanzenviertel mit brennenden Barrikaden ab. Zerstörten die Schaufenster von Boutiquen mit Pflastersteinen. Demolierten mit einem Verkehrsschild einen Geldautomaten der Deutschen Bank.
Zwei Tage lang wüteten die Randalierer. Und hinterher, nachdem Wasserwerfer die Feuer gelöscht und Straßenkehrer die Scherben fortgefegt hatten, sprachen Polizeisprecher und Psychologen von "Krawalltourismus", von einer zunehmenden Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen.
Mancher Wissenschaftler sieht in solchen Szenen noch etwas anderes: eine Warnung, was der Gesellschaft blüht, wenn der Staat nicht bald etwas gegen die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich tut.
Am Dienstag hat eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) die Debatte neu belebt. In einer Langzeiterhebung stellten die Autoren fest, dass die deutsche Gesellschaft im ersten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends rapide auseinandergedriftet ist. Im Jahr 2000 gehörten noch 18 Prozent der Bevölkerung zur Unterschicht, also zu jenen, die weniger als 70 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. 2009 waren es schon fast 22 Prozent. Die Gruppe der Wohlhabenden, die mehr als 150 Prozent des mittleren Einkommens ausgeben können, sei dagegen von 16 Prozent auf 19 Prozent gewachsen (siehe Grafik in der linken Spalte).
Doch damit nicht genug: Denn es wandern nicht nur Tausende Personen von der Mittel- in die Unter- und Oberschicht, auch das Lohngefälle nimmt zu. Die Ärmeren haben immer weniger Geld, die Reicheren immer mehr. Eindrucksvoll illustriert das diese Tabelle:
"Die Tendenzen, die wir beobachtet haben, zeigen eindeutig einen Trend zur Vergrößerung der Einkommensgegensätze", sagt Studien-Co-Autor Jan Goebel vom DIW. Dieser Trend habe sich seit dem Jahr 2000 verstärkt.
Warum die Mittelschicht bröckelt
Für den Schwund der Gesellschaftsmitte nennen Experten verschiedene Gründe:
•Globalisierung: Durch verbesserte Transportmöglichkeiten und Kommunikationsnetze ist der internationale Wettbewerbsdruck stark gestiegen. Um mitzuhalten, müssen deutsche Unternehmen ihre Waren immer günstiger produzieren. Sie lagern zahlreiche Produktionsschritte in Billiglohnländer aus und erhöhen die Löhne in Deutschland kaum noch.
•Technologisierung: Der technische Fortschritt erfordert immer höher qualifizierte Arbeitskräfte. Für weniger produktive Arbeiten sinken die Löhne.
•Gesellschaftliche Hürden: Mit zunehmender Spezialisierung der Arbeit steigen die Hürden des gesellschaftlichen Aufstiegs. Stefan Hradil, Soziologe an der Uni Mainz, zeigt in einer Erhebung, dass Männer, die 1940 im Krieg geboren wurden, eine doppelt so hohe Chance, in die obere Mittelschicht aufzusteigen wie Männer, die 1971 im Wohlstand geboren wurden.
•Hartz IV: Die Arbeitsmarkt-Reform hat das Schrumpfen der Mittelschicht verstärkt. Früher rutschten Langzeitarbeitslose nicht unbedingt in die Unterschicht ab, nach der Agenda 2010 bedeutet der Jobverlust fast zwangsläufig den Absturz aus der Mittelschicht.
Hohe Polarisierungsdynamik
Was das DIW nicht erwähnt: In fast allen industrialisierten Staaten driftet die Gesellschaft auseinander, nicht nur in Deutschland. Hrandil hat die globalen Fliehkräfte bereits im Jahr 2008 beleuchtet. Ergebnis seiner Untersuchung: Die Polarisierung der deutschen Gesellschaft lag Mitte des Jahrzehnts knapp unter dem europaweiten Durchschnittswert.
Dennoch: Die meisten Experten sind beunruhigt über die Entwicklung in Deutschland. "Zwar ist die gesellschaftliche Polarisierung in Ländern wie Lettland oder Portugal viel größer", sagt Rudolf Hickel, Ökonom an der Uni Bremen. "Aber die Geschwindigkeit, mit der die deutsche Mittelschicht wegbröckelt, hat bedenklich zugenommen."
Und die Erosion der deutschen Gesellschaft könnte weiter fortschreiten. Laut einer Erhebung der Unternehmensberatung McKinsey könnten bis 2020 zehn Millionen Deutsche aus der Mittelschicht abgestiegen sein. Weniger als 50 Prozent der Bevölkerung würden dann ein Einkommen auf Durchschnittsniveau erzielen. "Das zerstörerische Potential gesellschaftlicher Polarisierung ist enorm", sagt Hickel.
Folgen der gesellschaftlichen Polarisierung
Tatsächlich sind erste Konsequenzen des gesellschaftlichen Übergangs schon jetzt messbar: So haben die Forscher Holger Lengfeld und Jochen Hirschle eingehend untersucht, wie schwindende Aufstiegschancen und eine immer schlechtere soziale Absicherung auf die Volksseele drücken.
Laut einer Erhebung von Hradil fürchten fast so viele Angestellte mit Hochschulabschluss um ihren Arbeitsplatz wie Erwerbstätige ohne Berufsabschluss. Das hat auch realwirtschaftliche Folgen: "Die Sparquote in der Bundesrepublik ist nicht zuletzt so hoch, weil die Deutschen sich vor dem gesellschaftlichen Abstieg fürchten", sagt Hickel. "So bremst die Angst vor dem Statusverlust den Konsum und damit das konjunkturelle Wachstum."
Die Leistungsbereitschaft der Deutschen sinkt dadurch nicht - im Gegenteil: Weil die Angst vor dem Statusverlust so groß ist, nehmen viele immer härtere Arbeitsbedingungen in Kauf, niedrige Tarifrunden etwa oder längere Arbeitszeiten. Vor allem am unteren Rand der Mittelschicht steigt der Druck. Der Soziologe Ulrich Beck warnt schon vor einer "Brasilianisierung des Westens", immer mehr Deutsche könnten in prekäre Arbeitsverhältnisse abdriften und mit mehreren schlechtbezahlten Jobs am Existenzminimum knapsen. "Das FDP-Motto 'Leistung muss sich wieder lohnen' ist angesichts dieser Entwicklung hochgradig zynisch", sagt Hickel.
Drohende Verrohung der Gesellschaft
Die langfristigen Folgen wären noch bedeutend schlimmer. So warnen die DIW-Autoren, die Polarisierung der Einkommen könnte die Struktur vieler Städte bedenklich verändern - und den Wiederaufstieg in die Mittelschicht erheblich erschweren. Ärmere Menschen seien auf niedrige Mieten angewiesen und würden vermehrt in Elendsquartiere abwandern. Solche Armenviertel aber seien "von Resignation und Zukunftspessimismus geprägt". Dort entstehe ein Lebenskontext, der von Resignation und Zukunftspessimismus geprägt sei. Vor allem für die Lebensperspektiven von Kindern und Jugendlichen ist das verheerend.
Eine weitere Gefahr: Wer den gesellschaftlichen Abstieg fürchtet, macht dafür gerne eine andere Bevölkerungsgruppe verantwortlich. Die Folge könnten Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhass sein, schreiben die DIW-Autoren. Auch Hickel sieht diese Gefahr, "wenngleich es für derartige Tendenzen bislang noch keine Belege gibt". Derzeit sei Fremdenhass vor allem ein Problem der Unterschicht, bei einer verschärften gesellschaftlichen Polarisierung bestehe aber die Gefahr eines Überspringens auf die Rest-Mittelschicht.
Auch das Gewaltpotential könnte dann deutlich steigen. "In der Nachkriegsgeschichte war die Akzeptanz der Demokratie stark von den Aufstiegserwartungen geprägt, die eine demokratische Gesellschaft bietet", sagt Hickel. "Diese fallen jetzt immer stärker weg." Die Folge: Politikverdrossenheit, wachsende Ängste vor sozialem Abstieg - und schwindende Hemmungen, gegen das System zu rebellieren.
"Die Bundesregierung sollte schleunigst gegen die gesellschaftlichen Fliehkräfte ankämpfen", sagt Hickel. "Mit einer Lohn- und Steuerpolitik, die die untere Mittelschicht stärker stützt - und mit einem Sparpaket, das die Oberschicht stärker in die Pflicht nimmt."
Schrumpfe die Mittelschicht dagegen weiter, könne die ganze Gesellschaft auseinanderfallen. "Dann brennen die Barrikaden nicht nur am 1. Mai im Hamburger Schanzenviertel."
Von Stefan Schultz