Süddeutsche Zeitung, 17.09.2010
Die Grünen im Umfragehoch - Grün ist bequem
Ein Kommentar von Nico Fried
Sie waren schon so oft tot gesagt, dass es sie eigentlich nicht mehr geben dürfte. Doch jetzt feiern die Grünen Umfragewerte, die so hochprozentig sind, wie es früher nur die Besäufnisse in ihren Wohngemeinschaften waren. Die Ex-Alternativen sind zu einer kleinen Volkspartei geworden - genau darin liegt auch ihre Schwäche.
Die Grünen dürfte es längst nicht mehr geben. Sie waren am Ende, als sie 1990 für vier Jahre aus dem Bundestag verschwanden. Sie begingen Selbstmord, als sie fünf Mark fürs Benzin wollten. Sie waren zweimal erledigt, als sie an der Seite von Gerhard Schröder in den Krieg zogen, erst in den Kosovo, dann nach Afghanistan. Sie hatten keine Zukunft mehr, als Joschka Fischer sich ins Privatleben verabschiedete.
Die Grünen waren so oft totgesagt und sind wieder aufgestanden, wie es selbst Lazarus nur auf einem Trampolin geschafft hätte.
Heute können die Grünen auf jüngste Rekordergebnisse im Bund und in Nordrhein-Westfalen verweisen. Ihre Umfragewerte sind so hochprozentig, wie es früher nur die Besäufnisse in ihren Wohngemeinschaften waren. Die schwarz-gelbe Regierung hat ihnen mit der Atomkraft ein Mobilisierungsthema geschenkt, wie die Demonstration am Samstag in Berlin zeigen wird. Und vor den Grünen stehen die Wahlen in Berlin und Baden-Württemberg, über die der Vorsitzende Cem Özdemir sagt, dass seine Partei jeweils den Regierungschef stellen wolle, wenn sie stärker als der Koalitionspartner sei.
Früher hätte man da an den Witz über die Ameise im Nacken eines Elefanten gedacht, die von ihren Gefährten angefeuert wird: "Würg ihn, Egon!" Mittlerweile aber behandelt die Kanzlerin höchstselbst die Grünen - wie jüngst in der Haushaltsdebatte - als eine der SPD gleichrangige Konkurrenz.
Mitten im Lamento über den Verschleiß der Volksparteien CDU, CSU und SPD spekuliert die Talkshow-Politologie schon über den Aufstieg einer neuen Volkspartei. Dieser Eindruck wird sich schnell relativieren, je häufiger sich die Grünen wieder in einer Regierung finden. Gleichwohl sind sie einstweilen von den drei sogenannten kleinen Parteien diejenige mit dem größten Potential. Die Linke lebt von der Schwäche der SPD, so wie die FDP bei der Bundestagswahl von Leihstimmen der Union profitierte. Die Grünen aber sind die einzige kleinere Partei der Mitte. Sie knabbern auf den Wahl-Diagrammen fast jedes andere Tortenstück an. Das ist ihre Stärke. Darin steckt aber auch eine Schwäche.
Ihr bürgerliches Milieu
Zuerst die Stärke: Gesellschaftlich entstammen viele Grüne einem bürgerlichen Milieu. Die Heimkehr der verlorenen Kinder schien sich über kurz oder lang in schwarz-grünen Koalitionen zu manifestieren, zumal unter Angela Merkel, deren Verständnis vom Staat viel näher bei den Grünen liegt als bei der FDP. Nun dürfte die Atompolitik diese Annäherung spürbar verlangsamen, zugleich ist es plötzlich sogar die bürgerliche Elterngeneration, die sich auch und gerade in Abgrenzung von der CDU der Protestkultur der Grünen anschließt, wie der Fall "Stuttgart 21" zeigt.
Die Anti-Parteien-Partei
Politisch galten die Grünen früher als Fleisch vom Fleische der SPD. Dann hat der kleine Koalitionspartner aus der Schröder-Zeit nach dem Ende der Regierung manches korrigiert, manches kassiert und manches schlicht verraten, was man als selbsternannter Reformmotor betrieben hatte. Gleichwohl ist es den Grünen gelungen, immer den Eindruck steter Modernisierung zu erwecken - anders als die SPD, die nur zurückkehren möchte zur Siebziger-Jahre-Wohligkeit an der Seite der Gewerkschaften. In Berlin setzt sich der Regierende Bürgermeister für die Abschaffung der Rente mit 67 in 20 Jahren ein - und verfehlt damit das Lebensgefühl einer Stadt, die doch wie keine andere im Hier und Jetzt vibriert.
So viele Widersprüche
Und die Schwäche? Die Grünen, deren größtes Verdienst darin besteht, dass sie mit der Ökologie eines ihrer Gründungsthemen zum gesellschaftlichen Allgemeingut durchgekämpft haben, leisten heute einer politischen Beliebigkeit Vorschub. Die Grünen sind derzeit eine Partei, in der gegensätzliche Positionen gefahrlos eine gemeinsame Heimat haben, solange sie sich nicht beweisen müssen. Sie leben im Sowohl-als-Auch und können froh sein, dass sie sich meistens noch nicht entscheiden müssen. Nicht nur in der Frage von Koalitionen sind die Grünen differenziert bis an die Grenze der Gleichgültigkeit. Nur die Inhalte einer Regierung müssten stimmen, sagen sie vorher. Aber sie bleiben, zum Beispiel in Hamburg, auch hinterher, selbst wenn der einzige verbliebene grüne Inhalt von den Bürgern wegentschieden wurde.
Ein alter Rechthaber
Nun waren die Grünen immer eine Partei des Widerspruchs. Und das in vielfacher Hinsicht. Sie formierten sich in Opposition zu Gesellschaft und Politik. Und das nicht nur im Westen, sondern im Bündnis-90-Teil auch im Osten. Zugleich gehörte zu ihrer Identität von Beginn an auch der innere Widerspruch, der sie gebremst, aber auch angetrieben hat. Die Grünen waren zudem antiautoritär und unterwarfen sich doch über viele Jahre dem Regiment nur einer Person. Es hat nie einen stärkeren Parteichef gegeben als Joschka Fischer, auch wenn er nie Parteichef gewesen ist.
Fischer war übrigens in seiner Zeit als Außenminister überzeugt, dass noch mehr Menschen ihn wählen würden, wenn nur seine Partei nicht wäre. Richtig ist, dass immer mehr Menschen die Grünen wählen, seit Fischer weg ist, was nicht wirklich an ihm liegt, dem alten Rechthaber aber trotzdem recht geschieht. Freilich ist es auch erstaunlich, dass noch immer altbekannte Gesichter die Partei- und Fraktionsspitze dominieren. Der Quell der Popularität einer Renate Künast in Berlin kann außer mit schwächelnden Gegnern eigentlich nur mit Nostalgie erklärt werden.
Die interne Widersprüchlichkeit der Grünen hat heute nicht mehr die Härte der Auseinandersetzungen zwischen Fundis und Realos von einst. Sie zeigt sich eher in Unterschieden zwischen mehr oder weniger Staatsgläubigkeit, zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitikern, oder in der Außenpolitik beim Einsatz der Bundeswehr. In dieser Widersprüchlichkeit lässt sich gut leben, solange man nicht in der Verantwortung steht.
Widersprüchliches Milieu
Das aber ist auch das Problem. Es ist ja kein Wunder, dass den Grünen vor allem in einem Milieu viel Sympathie begegnet, das in sich so widersprüchlich ist wie die Partei selbst: etabliert und doch progressiv; ein Milieu, für das keine Kirche, keine Gewerkschaft und kein Verein mehr die wichtigste Bindung neben der Familie ist, das sich aber gleichwohl als wertorientiert versteht. Ein Milieu, das die institutionalisierte Politik eigentlich abstoßend findet, aber auch nicht unpolitisch erscheinen will.
Für solche Menschen sind die Grünen die bequemste Partei. Mit ihr kann man irgendwie für den Einsatz in Afghanistan sein, aber gleichzeitig ein schlechtes Gewissen haben. Als Sympathisant der Grünen kann man Karriere in der Ellenbogengesellschaft machen und sich dafür über die staatlich organisierte Solidarität freikaufen. Und als Grüner in Berlin ist man ganz sicher unter vielen Gleichgesinnten, wenn man die Thesen von Thilo Sarrazin ganz schrecklich findet, aber das eigene Kind wegen des hohen Ausländeranteils an der einen Schule lieber in eine andere schickt.
Selbst eine kleine Volkspartei muss eben große Widersprüche aushalten.