Sächsische Zeitung, 25.09.2010
Vom Scheißstaat und anderen Gerüchen
Satirischer Nachschlag von Wolfgang Schaller
Bald haben wir sie überstanden, all die Festtagsreden zum Einheitstag. Es sind zwanzig Jahre, die zwischen einem verlorenen Dreigroschenstaat und einer verlorenen Geldanlage liegen, und dies ist den Festrednern Anlass, Rückschau zu halten auf eine Vergangenheit, die hinter uns liegt, und einen Kadaver, auf den sie einprügeln, als sei seine Leiche noch gefährlich. Sie halten Rückschau über das Früher und das Später und das spätere Früher und das frühere Später, und die Rückschau hält sie ab, in den eigenen Spiegel zu schauen und über die Gegenwart zu erschrecken. In den Talkshows schwafeln die Ritter der Schwafelrunde und beweisen, dass der Hirntod nicht das Ende des Lebens ist: Dass es ein Unrechtsstaat war wie die Unrechtssysteme von Pol Pot und Pinochet und Hitler und Stalin. Und die Sieger im Westen erzählen uns, wie wir gelebt haben im Osten mit Pittiplatsch im Arm und Spreewaldgurken im Mund: Dass es verboten gewesen sei, Englisch zu lernen, und dass es in den Gaststätten nur Bockwurst gegeben habe und für jeden Stammtischwitz gleich Gitterstäbe. Und dass sie uns vor zwanzig Jahren deshalb den Kapitalismus geschenkt haben. Als hätten wir nicht auf ostdeutschen Straßen die Regierung gestürzt mit Lichterketten und Kerzen und nach Freiheit gerufen oder auch nur nach Bananen, während Kohl im Nachthemd im Hotelbett in Warschau lag, als die Mauer fiel, und dann so tat, als sei das Nachthemd der Mantel der Geschichte gewesen.
Ja, es war ein Scheißstaat, von dem wir uns befreit haben, da hat er schon recht, der von mir geschätzte Regisseur, der in einem Interview vor Tagen in dieser Zeitung daran erinnerte, wie viele Menschen in diesem Scheißstaat getötet wurden, ohne dass sie starben. Ein Scheißstaat, der uns bevormundete und ungeratene Gedankenkinder mordete, weil Andersdenkende Denkende waren und keine Parteisoldaten im Gleichschritt, und in dem man einen warmen Schal um seine Seele brauchte, damit die Träume nicht erfrieren. Aber, geschätzter Regisseur, was machen wir mit denen, die in diesem Land in ihrer Jugend von einer gerechteren Welt geträumt haben? Mit denen, die dieses Land aus Liebe hassten, weil sie das Niemandsland zwischen den Idealen und der Realität nicht mehr überwinden konnten und doch die Hoffnung nicht sterben lassen wollten, dass ein gerechterer Sozialismus möglich sei? Wenn Christa Wolf in ihrem neuen Roman von dieser enttäuschten Liebe spricht, durfte sie sich der Gehässigkeit der heut herrschenden Feuilletonisten gewiss sein. Man muss schon wie im „Turm“ den Zeitgeist bedienen, um als Leuchtturm literarischer DDR-Aufarbeitung gefeiert zu werden.
Und was machen wir mit denen, die aus einem Scheißstaat in einen Staat kamen, den sie heut einen Scheißstaat nennen? Die meinen, sie wären vom Regen in die Jauche gekommen, weil sie arbeitslos und ohne Zukunft sind und sich überflüssig fühlen wie Menschenmüll und also getötet wurden, ohne zu sterben? Und was machen wir mit denen, die in der Diktatur „Wir sind das Volk“ riefen und nun Banker und Manager rufen hören: „Aber wir sind das Geld!“, und die nun statt erhoffter demokratischer Mitgestaltung der Macht ihre Ohnmacht sehen, wenn ihre frei gewählten Volksvertreter so frei sind, Lobbyisten und Globalmanager zu vertreten.
Meinetwegen: Es war ein Unrechtsstaat, es war ein menschenfeindlicher Staat. Aber nun lasst uns diesen Staat heute gerechter machen und menschenfreundlicher. Und lasst uns unsere Träume von einer besseren Welt. „Menschen, denen das Träumen verwehrt wird, haben keine andere Heimat als den Wahnsinn.“ Das sagte der Dramatiker Heiner Müller. Aber wer kennt den noch?