Süddeutsche Zeitung, 02.10.2010
Proteste gegen Stuttgart 21: Demo, Demos, Demokratie
Ein Kommentar von Heribert Prantl
Der Rechtsstaat einer aufgeklärten Demokratie kann nicht einfach sagen: Geht aus dem Weg, Leute, das ist beschlossen, das wird jetzt durchgesetzt. Nicht bei Großflughäfen, nicht bei der Atompolitik - und nicht bei Stuttgart 21.
Das Wort Demonstration kommt von demonstrare; das heißt "etwas zeigen". Die Demonstrationen in Stuttgart zeigen, dass ein moderner Rechtsstaat kein Staat sein darf, der Entscheidungen einfach exekutiert; ein moderner Rechtsstaat muss, zumal wenn es um riesige Bauprojekte geht, auch für schon getroffene Entscheidungen werben, immer wieder - und er muss sie notfalls korrigieren.
Der Rechtsstaat einer aufgeklärten Demokratie kann (ob es um Großflughäfen, Atomkraftwerke oder um Stuttgart 21 geht) nicht einfach sagen: Geht aus dem Weg, Leute, das ist schon vor ewigen Zeiten so beschlossen und verkündet worden, das ist jetzt abgehakt, das wird jetzt durchgesetzt. Sicher, es muss Planungssicherheit geben. Aber die entsteht nicht dadurch, dass man den Demonstranten alte Planfeststellungsbeschlüsse um die Ohren schlägt. Planungssicherheit entsteht, wenn man den "Demos", das Volk, die Bürger also, überzeugt; wenn man auf Kritik eingeht, die Planungen prüft und gegebenenfalls verändert.
Als 1994 das Projekt Stuttgart 21 öffentlich vorgestellt wurde, ging ein Teil der Demonstranten von heute gerade in die Grundschule; die Raumordnungsverfahren und Projektbeschlüsse zu Stuttgart 21 lagen nicht in ihrer Schultüte. Und die Senioren unter den Demonstranten? Wussten sie nicht alles über Stuttgart 21 oder hätten zumindest alles wissen können? Sie haben die Politiker gewählt, die das Großprojekt beschlossen haben.
Muss es nicht damit sein Bewenden haben? Wenn es so wäre, dann wäre das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit ein Larifari-Grundrecht. Natürlich darf auch gegen ein längst beschlossenes Großprojekt demonstriert werden, natürlich dürfen auf diese Weise an die Politik Gesichtspunkte herangetragen werden, die vor einem Jahrzehnt womöglich noch gar nicht bekannt waren.
Es gibt die Rechtsfigur des Wegfalls der Geschäftsgrundlage. Wenn die Geschäftsgrundlage für einen Vertrag wegfällt, dann muss der Vertrag angepasst werden. Bei Großprojekten ist es nicht anders. Man kann die Demonstrationen in Stuttgart als die vehemente Aufforderung an die Politik verstehen, zu überprüfen, ob sich aufgrund von neuen Erkenntnissen die Geschäftsgrundlage für das Projekt grundlegend verändert hat.
Der Massenprotest ist also kein Angriff auf die repräsentative Demokratie. Womöglich ist er aber auch ein Vorgriff auf sich neu bildende Mehrheiten. Und im Übrigen ist eine repräsentative ja keine blinde Demokratie. Sie darf sich von Kritik überzeugen lassen, muss es aber nicht.
Wie soll der Staat also mit den Protesten umgehen? So, wie es Leuten gebührt, die ein Grundrecht in Anspruch nehmen. Mit drakonischen Mitteln kann ein Staat zwar innere Sicherheit herstellen; inneren Frieden erreicht er auf diese Weise nicht. Mit Polizei, Wasserwerfern, Pfeffergas und Motorsägen kann der Staat nicht überzeugen. Polizeibeamte sind nicht die Gebrechlichkeitspfleger der Politik. Polizeibeamte sind auch nicht die Mediatoren für eine gespaltene Gesellschaft; für Schlichtung ist die Politik da.
Ein Oberbürgermeister, der sich vor den protestierenden Bürgern versteckt, verdient daher eigentlich den Namen "Bürgermeister" nicht. Und ein Ministerpräsident wird nicht dafür gewählt, dass er nun den Rambo mimt. Nicht der Protest in Stuttgart ist also unnormal, sondern die Politik. Womöglich muss sie einen Volksentscheid suchen, um zur Normalität zurückzufinden.