Sächsische Zeitung, 04.11.2010
Was der Westen vom Osten lernen kann
Von Wolfgang Donsbach
Der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Donsbach von der TU Dresden über das Musterländle Sachsen und die Thesen von Ministerpräsident Stanislaw Tillich. Wie pragmatisch und flexibel sind die Ostdeutschen wirklich? Ein Faktencheck.
Wie haben sich die Zeiten geändert! Zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung gibt nun der Osten dem Westen Ratschläge, wo es lang geht. Den Part „des Ostens“ übernahm im Oktober Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich. Angeregt durch den Streit um den Stuttgarter Bahnhof schrieb er im Magazin „Focus“ , die Westdeutschen seien heute zu bequem für den Fortschritt, während es im Osten „noch mehr Motivation“ gebe. Vor allem seine Sachsen seien das neue Musterländle. Weil man zu einer Spitzenregion in Europa werden wolle, gebe es kein Großprojekt, das erfolgreich durch Klagen gestoppt wurde.
„Wir haben Kohlekraftwerke gebaut, Straßen und Autobahnen, Braunkohle-Tagebaue erweitert. Das ist in anderen Bundesländern nicht mehr möglich.“ Seinem baden-württembergischen Kollegen Mappus riet er zu mehr Durchhaltevermögen. Die Dresdner Waldschlößchenbrücke zeige, dass man Wahlen auch gegen Bürgerproteste gewinnen könne. Tillich hatte auch eine Erklärung parat: Der Osten könne wegen der harten Erfahrungen im Systemwandel von Sozialismus zu Marktwirtschaft leichter „die Konsequenzen des Marktes aushalten“. Der Westen sei erfolgsverwöhnt und habe mehr Besitz angehäuft, den er nun unter allen Umständen verteidigen wolle.
Tillich zeigt Mut und Gespür
Tillich zeigt Mut. Vielen seiner Kollegen auch aus der eigenen Partei wird das nicht schmecken, und noch immer sitzen im Westen so manche auf einem hohen Ross, von dem aus sie sich als Letztes von Ostdeutschen Vorschriften machen lassen wollen. Tillich zeigt aber auch Gespür für politisches Timing. Nach den vielen Zwanzig-Jahre-Feiern ist es aus seiner Sicht offensichtlich an der Zeit, die Emanzipation sowohl der ostdeutschen Bürger als auch Politiker gegenüber dem Westen voranzutreiben. Gerade aus einem wirtschaftlich und finanzpolitisch soliden Bundesland lässt sich so ein Projekt leichter angehen. Hier geht es also auch um bundespolitischen Einfluss – und natürlich um Standortwerbung.
Tillich stellt dabei Hypothesen auf, die es zu prüfen gilt, soweit dazu Daten vorliegen. Räumen wir aber zunächst ein Missverständnis in seiner Argumentation aus dem Weg: die als Indikator für seine Hypothesen angeführte Parallele zwischen „Stuttgart 21“ und der Dresdner Waldschlößchenbrücke. Beides lässt sich nämlich gerade nicht vergleichen, weder von den Kosten, noch den Eingriffen in bestehende Flächen und schon gar nicht hinsichtlich der Haltung der Bürger.
In Dresden gab es erstens einen (positiven) Bürgerentscheid, und zweitens zu jedem Zeitpunkt eine demoskopisch gemessene satte Mehrheit für den Bau der Brücke. Beides fehlt in Stuttgart. Die Ratschläge an den Kollegen Mappus nach dem Motto „Augen zu und durch“ sind also für den hoch riskant. In Sachsen hat man aus Angst vor dem Wähler auch schon von manchem Vorhaben den Finger gelassen, zum Beispiel von Studiengebühren. Zum Faktencheck.
Faktencheck 1: Sind für den Westen Veränderungen ungewohnter als für den Osten?
Das ist keine Frage. Der letzte Systemwechsel liegt im Westen 65 Jahre zurück, und die letzten Friktionen der Anpassung dürften mit den Konfrontationen zwischen der Generation der Väter und ihren in der Bundesrepublik sozialisierten Kindern, insbesondere der 68er-Generation, geendet haben. Alles, was danach kam, war mit Ausnahme kleinerer wirtschaftlicher Krisen und der strukturell bedingten hohen Arbeitslosigkeit ein geordneter und meistens positiv besetzter Wandel. Die Bürger in der Bundesrepublik „wuchsen“ im wahrsten Sinne des Wortes, auch mit und innerhalb der Europäischen Union, aber sie mussten sich nie radikal an Veränderungen anpassen. Mit dem Wachstum war natürlich bei den meisten auch ein Wohlstand verbunden, der bewahrt werden wollte. Im Osten gab es dagegen Veränderungen in allen Bereichen. Vermutlich waren die vom Individuum direkt erlebten eher ambivalenter Natur. Man hatte ab 1990 mehr Geld zur Verfügung, konnte reisen und frei wählen, lebte aber mit größerer Ungewissheit vor allem hinsichtlich des Arbeitsplatzes. Dagegen war der Wandel, der im öffentlichen Bereich ablief, fast durchweg positiv. Das Land machte nicht nur einen Veränderungs- sondern auch einen rapiden Modernisierungsprozess durch. Die zwanzig Jahre in der Bundesrepublik waren ja durchaus eine Erfolgsstory und bedeuteten für den Einzelnen nicht nur Stress. Dennoch: ein Punkt für Tillichs Argumentation.
Faktencheck 2: Lässt sich im Osten mehr durchsetzen?
Es ist schwer, die Realisierung von Großprojekten zwischen Ost und West gegeneinander aufzurechnen. Dafür gibt es keine Statistiken, aber Beispiele. Die Startbahn West am Frankfurter Flughafen wurde trotz oft militanter Proteste in den 80er-Jahren dann doch gebaut, und jetzt kommt eine weitere Start- und Landebahn in Rhein-Main dazu. Bei München hat der Freistaat Bayern Anfang der neunziger Jahre einen völlig neuen Flughafen auf die grüne Wiese gesetzt. In Berlin-Brandenburg, hinsichtlich der Protestkultur sicher mehr von West- als von Ostberlin oder Brandenburg geprägt, entsteht gerade ohne Störungen der Großflughafen BBI. Das Autobahnnetz im Westen wurde vor allem seit den 80er-Jahren immer dichter – auf Kosten von Grün- und Privatflächen. Die Städte veränderten sich zum Teil in atemberaubender Schnelligkeit. Man vergleiche nur die heutige Skyline von Frankfurt am Main mit der aus den 70er-Jahren. Selbst die Kernkraftwerke dürfen nun wieder länger laufen und die Castor-Transporte nach Gorleben rollen.
Das sind nur Beispiele, aber kann man sagen „Nichts geht mehr im Westen“? Wohl kaum. Im Osten ist zwar mehr gebuddelt und gebaut worden, aber das war auch nötig und mit den insgesamt 1400 Milliarden Euro Nettotransferleistungen des Bundes, die alleine zwischen 1990 und 2006 geflossen sind, gut zu finanzieren. Die ökonomischen Anreize dürften wohl auch der gewichtigere Grund als die vermeintlich größere Flexibilität der Ostdeutschen dafür sein, warum laut einer Allensbacher Umfrage 55 Prozent der Führungskräfte aus der deutschen Wirtschaft, „wenn sie noch einmal jung wären, eher im Osten als im Westen etwas aufbauen würden“. Also vielleicht ein halber Punkt für Tillichs Argumentation.
Faktencheck 3: Schlägt sich die unterschiedliche Erfahrung in größerer Mobilitätsbereitschaft nieder?
Mit der Friedlichen Revolution traf auf die noch sehr viel traditionelleren Lebensverhältnisse mit starkem Familienverbund und geringer beruflich bedingter Mobilität in der DDR ein kapitalistischer Arbeitsmarkt. Die Ostdeutschen mussten seitdem auch häufiger den Arbeitsplatz wechseln als ihre Mitbürger im Westen. Nach einer Analyse des Instituts für Bildungsforschung wechselten sie dabei aber seltener den Wohnort als die Westdeutschen. Letztere sind also offensichtlich geografisch mobiler. Die Erklärung ist einfach: Wegen einer größeren Heimat- und Familienverbundenheit wollen gerade die Ostdeutschen so lange wie möglich dort bleiben, wo sie aufgewachsen sind und wo ihre Freunde und Verwandten leben. Deshalb hat nach einer Emnid-Studie auch jeder dritte Sachse heute „Angst, dass die Familie auseinandergerissen wird“. Bodenständigkeit und Heimatliebe sind zwar sympathische Eigenschaften, zeugen aber nicht von Flexibilität. Kein Punkt für Tillich.
Faktencheck 4: Sind die Ostdeutschen zukunftsorientierter und marktwirtschaftlicher eingestellt?
Zumindest gab es 2001, als die Frage zum letzten Mal gestellt wurde, etwas mehr Menschen im Osten, die glaubten, „dass die Menschheit einer immer besseren Zukunft entgegen geht“, nämlich 54 zu 46 Prozent im Westen. Aber sind die Ostdeutschen auch marktwirtschaftlicher eingestellt, oder wie Tillich behauptet hatte, eher in der Lage, „die Konsequenzen des Marktes auszuhalten“? Für Sachsen können wir die Frage mit jüngeren Ergebnissen eindeutig beantworten – und verneinen. Im Gegenteil, die Begriffe „Leistungsprinzip“, „Konkurrenz“ und „Marktwirtschaft“ haben seit Anfang der 90er-Jahre erheblich an Sympathie eingebüßt. Ein Beispiel: „Marktwirtschaft“ war 1990 noch 85 Prozent der Sachsen sympathisch, heute sind es 63 – eine Verringerung um 22 Punkte. Gleichzeitig hat „Sozialismus“ um 16 Punkte an Sympathie gewonnen. Also kein Punkt für Tillich.
Faktencheck 5: Sind die Ostdeutschen pragmatischer?
Beim Wort „Baustopp“ denkt man derzeit an Stuttgart – und das liegt im Westen. Ein über Jahre durchgeplantes und finanziertes Projekt gerät ins Stocken, und es ist zurzeit nicht abzusehen, dass es irgendwann einmal weitergeht. Steckt hinter den Stuttgart 21-Protesten eine unterschiedliche Mentalität? Leider zuletzt im Jahr 2000 wurden die Deutschen gefragt, womit sie bei den Dingen, die ihre Stadt oder die Gemeinde gerade entschieden haben, persönlich nicht einverstanden sind. „Mit der Verkehrsplanung“, sagten im Westen 52 Prozent, im Osten, 36; „mit bestimmten größeren Bauvorhaben“ im Westen 28, im Osten 22 Prozent. Das kann für Kritikastern und Status-quo-Verliebtheit im Westen sprechen. Aber es kann auch ganz andere Ursachen haben: Erstens waren die Bauvorhaben im Osten meistens willkommene Modernisierungen einer maroden Infrastruktur. Zweitens können die Proteste auch Ausdruck stärkerer politischer Partizipationsbereitschaft des Bürgers sein. Die wird ja von allen Politikern gefordert – zumindest, solange sie sich nicht gegen die eigene Sache richtet.
Derzeit noch pflegeleichter
Unbestreitbar haben viele Bürger der DDR 1989 eine mutige Partizipation bewiesen, als sie auf die Straße gingen. Es war freilich nur eine Minderheit, der die meisten Bürger stillschweigend zusahen. Nach heutigen demoskopischen Ergebnissen kommt die Bereitschaft, in einer Bürgerinitiative mitzuarbeiten, für jeden zweiten Ostdeutschen „nicht infrage“, aber nur für 39 Prozent der Westdeutschen. Auch zu anderen Möglichkeiten der politischen Teilhabe wie Leserbriefe schreiben oder Mithelfen, in der eigenen Gemeinde Probleme zu lösen, sind die Ostdeutschen etwas seltener bereit als die Westdeutschen. Auch fordern sie seltener Volksentscheide über den Bau von Flughäfen, gentechnisch veränderte Lebensmittel, die Embryonenforschung oder Atomkraftwerke. Das alles sind eher ökologisch geprägte Themen, und zu ihnen ist die Partizipationsbereitschaft im Westen größer als im Osten. Die Ostdeutschen wollen dagegen eher Volksabstimmungen über Zuwanderung, Steuern und Kampfeinsätze der Bundeswehr.
Das ist ein Hinweis darauf, dass der Westen „postmaterialistischer“ ist. Postmaterialismus ist ein Begriff des amerikanischen Soziologen Ronald Inglehart, mit dem er deutlich machen will, dass Gesellschaften nach der Befriedigung ihrer wichtigsten materiellen Bedürfnisse für eher sekundäre Werte wie eben die Umwelt, Partizipation oder Gleichberechtigung eintreten. Insofern sind die Ostdeutschen politisch vielleicht nur (noch) etwas pflegeleichter als die Westdeutschen. Also kein Punkt für Tillich.
Faktencheck 6: Ist die problemlose Durchsetzung von Großvorhaben ein Vorteil einer Gesellschaft?
Man kann vom Stuttgarter Bahnhofsbau halten, was man will. Wahrscheinlich ist es auch ökologisch sinnvoller, ihn zu bauen, wirtschaftlich nach all den Planungen ohnehin. Aber auch als Befürworter eines Vorhabens sollte man der Existenz einer „Protestkultur“ etwas abgewinnen können, solange diese sich in demokratischen und rechtsstaatlichen Bahnen bewegt. Die Thematisierung der Gegnerschaft gegen geplante oder laufende Projekte des Staates – übrigens in jeder Phase, weil alles rückholbar sein muss, wenn sich die Bedingungen ändern – ist ein wichtiges Element jeder Demokratie. Auch hier fällt der Faktencheck also eher negativ aus.
Sachsen hat mit seiner Geschichte und seiner gegenwärtigen Lage genügend Vorzüge, mit denen sich werben lässt. Da muss man nicht störungsfreie Bauvorhaben bemühen. Aber vielleicht war alles nur eine geschickte Standortwerbung des Ministerpräsidenten für sein Bundesland.