Agenturen dapd, 17:11 Uhr, 18.11.2010
Historiker am Hannah-Arendt-Institut soll selbst IM gewesen sein – Beleites spricht von „Schweigekartell“ Grüne verlangen Aufklärung
Dresden (dapd). Das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden wird mit schwerwiegenden Stasi-Vorwürfen gegen seinen Mitarbeiter Michael Richter konfrontiert. Er soll laut Zeitungsberichten zwischen 1979 und 1981 als IM „Thomas“ Oppositionelle für den DDR-Geheimdienst ausspioniert haben. Das Institut kündigte am Donnerstag an, sich am kommenden Dienstag „mit der Angelegenheit befassen“ zu wollen. Zunächst ändere sich für Richter nichts. Der sächsische Stasiunterlagen-Beauftragte Michael Beleites sprach von einem „Schweigekartell“, der Leipziger Bürgerrechtler Tobias Hollitzer warf Richter vor, sich nie offen mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt zu haben.
Richter soll laut Zeitungsberichten zwischen Januar 1979 und April 1981 unter anderem kirchliche Kreise ausspioniert haben. So soll er das Notizbuch eines Freundes abgeschrieben und es dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ausgehändigt haben. Richter habe sich freiwillig als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) verpflichtet, 1981 sei er dann nach Westdeutschland eingeschleust worden. Von dort habe er jedoch keinerlei Berichte geliefert, stattdessen habe er eine Stelle bei der Konrad-Adenauer-Stiftung angetreten. 1994 kam Richter dann nach Dresden an das Hannah-Arendt-Institut, schon damals habe es Hinweise auf Stasi-Verstrickungen gegeben, die aber angeblich ausgeräumt wurden. Im vergangenen Jahr geriet Richter in die Schlagzeilen, als der damalige Bundespräsident Horst Köhler bei seiner Rede zum 20. Jahrestag der Friedlichen Revolution in Leipzig fehlerhafte Abschnitte aus Richters Buch über den Wende-Herbst in Sachsen zitierte.
Institutsleiter Günther Heydemann sagte, das Kuratorium des Instituts werde sich auf der nächsten regulären Sitzung am kommenden Dienstag „mit der Angelegenheit befassen“. Das Institut hatte laut Heydemann bereits im August ein Auskunftsersuchen zur Überprüfung in Berlin gestellt. Erste Dokumente seien am Montag zugestellt worden. Man wolle man die komplette Akte sichten, um den Fall endgültig bewerten zu können.
Beleites erklärte, die Angaben der Stasi-Unterlagen-Behörde von 1991, nach denen Richter zur Zusammenarbeit dem MfS genötigt worden sei, seien schon damals falsch gewesen, „und zwar wissentlich falsch“. Die Akten hätten diesen Schluss überhaupt nicht zugelassen. Diesen Sachverhalt müssten damals mehrere Menschen rund um das Institut und auch in der Staatsregierung gewusst haben. Es werde spannend, herauszufinden, „wer an diesem Schweigekartell alles beteiligt gewesen war“, sagte Beleites.
Der Vorstand des Leipziger Bürgerkomitees zur Auflösung der Staatssicherheit, Tobias Hollitzer, sagte, wenn jetzt behauptet werde, bereits Mitte der 1990er Jahre sei Richters Stasi-Mitarbeit bekannt gewesen, dann sei das nur sehr eingeschränkt richtig. „Ich wusste nichts davon“, sagte Hollitzer, der mit Richter zusammen einen Atlas über die Demonstrationen im Herbst 1989 in Sachsen herausgebracht hatte. Er hätte sonst nie mit Richter zusammengearbeitet. Er warf Richter vor, nie offen über seine Vergangenheit gesprochen habe. Dies zeige auch ein Text noch aus dem Jahr 2006 in der Jenaer Geschichts-Publikation „Gerbergasse 18“ Darin heißt es: „Ich studierte in Berlin evangelische Theologie und ging 1981 nach einem Anwerbeversuch des MfS in den Westen.“ Hollitzer nennt dies eine „verschwirbelte Halböffnung zum Zweck der Selbstentschuldung“.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Landtagsfraktion, Karl-Heinz Gerstenberg, sprach von einer „unglaublichen Provokation“, wenn ausgerechnet ein IM über die Staatssicherheit publiziere. Zugutehalten müsse man Richter jedoch, dass er gleich nach seiner Ausreise in den Westen seine Spitzel-Tätigkeit offengelegt habe, sowie seine anerkannte wissenschaftliche Leistung der vergangenen zwei Jahrzehnte. Ins Zentrum der Kritik gehört nach Auffassung der Grünen der damalige Kuratoriumsvorsitzende des Instituts und heutige Landtagspräsident Matthias Rößler (CDU). Es müsse jetzt offengelegt werden, warum Richter trotz der Kenntnis der IM-Tätigkeit eingestellt worden sei, forderte Gerstenberg.
Von Matthias Hasberg
(Quellen: Beleites in dapd-Interview; Hollitzer auf dapd-Anfrage; Heydemann und Grüne in Mitteilungen)
dapd/lmh/kos
181711 Nov 10