Neue Zürcher Zeitung, 20.11.2010
Der Bock als Gärtner
Im Dresdner Hannah-Arendt-Institut arbeitet ein ehemaliger Stasispitzel
(Vorbemerkung Karl Nolle: Die NZZ berichtet ausführlicher als die Sächsische Zeitung, ein politisches Trauerspiel mit Hintergrund. Die NZZ hat eben auch keine Geschichte als ehemalige Bezirksparteizeitung der SED, wie die "Sächsische Zeitung in Dresden)
Diktaturen hinterlassen ein giftiges Erbe, und ihre Spitzel zu enttarnen, dauert oftmals lange. Derweil die Literaturszene noch schwer an den jüngsten Nachrichten kaut, die Oskar Pastiors postume Demaskierung als Agent der Securitate vorantreiben, sieht sich zeitgleich die deutsche Historikerzunft mit einem Fall konfrontiert. Zwar handelt es sich bei Michael Richter um keine prominente Figur. Dafür ist der Hintergrund delikat. Richter, der 1981 aus der DDR in die Bundesrepublik ausreisen durfte und in den zwei Jahren zuvor nachweislich der Stasi als fleissiger Zuträger gedient hat, arbeitet seit 1994 am Hannah-Arendt-Institut in Dresden. Ein Ex-Spitzel ausgerechnet an einer Einrichtung für Totalitarismusforschung. Einst Handlanger der Repression, nun ihr Analytiker, ein Dunkelmann als Aufklärer. Und alles anscheinend mit dem Wissen oder Halbwissen und der Duldung von Institutsleitung und Teilen der sächsischen Regierung.
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Verfrühte Entlastung
Frei vom Verdacht, für das Ministerium der Staatssicherheit der DDR gearbeitet zu haben, war Michael Richter nie. Doch noch bis diese Woche hielt sich die Mär, die Gauck-Behörde habe Richter 1991 überprüft und entlastet. Das war insofern falsch, als Richter damals selbst seine Akten angefordert hatte, nur unvollständiges Material erhielt und auf dieser Grundlage eine Bescheinigung erwirkte, er sei durch «Nötigung» zur Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst gezwungen worden und habe «keine belastenden Aussagen über andere Personen» gemacht. Mittlerweile sind seine eigenhändige Verpflichtungserklärung vom März 1979 und ein umfangreiches Dossier mit Richters Spitzelberichten aufgetaucht. Demnach hat der IM «Thomas» ganze Arbeit geleistet, der Stasi zum Beispiel Auskunft über den Urheber einer «Hetzschrift zum Programm des IX. Parteitages der SED» gegeben, einen Text des Oppositionellen Rudolf Bahro beschafft (was fürstlich honoriert wurde), aus kirchlichen Kreisen berichtet, einen Doktoranden der Philosophie wegen seines Abgleitens in subjektiven Idealismus denunziert, über sexuelle Neigungen von Kommilitonen informiert und, als Gipfel der Infamie, das Notizbuch eines Freundes für die Stasi abgeschrieben.
Als Richter 1981 ausreisen durfte, hatte er ein abgebrochenes Studium der evangelischen Theologie hinter sich, das er nun im Westen fortsetzte, erweitert um die Fächer Politik und Geschichte. Die Konrad-Adenauer-Stiftung nahm den noch nicht Dreissigjährigen unter ihre Fittiche, Richter revanchierte sich mit einer Doktorarbeit zur Geschichte der Ost-CDU «zwischen Gleichschaltung und Widerstand», einem Arbeitsgebiet, zu dem er auch schon in der DDR publiziert hatte. Für das 1993 in Sachsen vom CDU-Abgeordneten und späteren Wissenschaftsminister Rössler aus der Taufe gehobene Hannah-Arendt-Institut erschien Richter als passender Zeithistoriker. Dass Gegner ihn einen
«Haus- und Hofchronisten der CDU» schelten und
ein ehemaliger Direktor des Instituts berichtet, an ihm vorbei sei Richter der unmittelbare Ansprechpartner vieler CDU-Landtagsabgeordneter gewesen («im Grunde hat er weiter als IM gearbeitet, nur jetzt für eine demokratische Regierung»), regt die Bürgerrechtler aus der Wendezeit noch am wenigsten auf. Sie finden es haarsträubend, dass ein ehemaliger Stasi-Mann die Stasi und die Opposition erforschte und sich den Ruf erwarb, «Sachsens wichtigster Aufklärer in Sachen friedliche Revolution» zu sein.
Zur Rechtfertigung seiner Spitzeldienste bringt Richter vor, er habe alles nur getan, um «irgendwie in den Westen zu gelangen», auch habe er ja nur über Dinge informiert, welche der Stasi ohnehin bekannt gewesen seien, und darum niemandem geschadet. Für Kenner der Materie ist das eine unhaltbare Apologie. Da jede Information doppelt bestätigt sein musste, um im Apparat der Staatssicherheit Verwendung zu finden, war auch die Auskunft über «ohnehin Bekanntes» für den Bespitzelten gefährlich. Und dass Richter es dahin brachte, dass die Stasi seine Ausreise einfädelte, weil sie ihn als Auslandsagenten nutzen wollte, belegt nur, wie sehr sie ihm vertraute. Es ist eine Auszeichnung für Geleistetes, wie man sie sich deutlicher kaum denken kann.
Doch wer wollte bestreiten, dass Böcke nicht bisweilen auch zu Gärtnern taugen? Dass demokratische Regime nach einem Systemwechsel auf Geheimdienstler aus dunkler Zeit zurückgreifen oder ihnen Unterschlupf gewähren, ist vielfach belegt – bis hin zu Ex-Stasi-Leuten in der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen. Als Zeithistoriker konnte Richter mit detailreichen Forschungen punkten. Sein 2009 erschienenes zweibändiges Werk über die friedliche Revolution in Sachsen, verlegt von der Landeszentrale für politische Bildung,
empfahl Ministerpräsident Tillich den Schulen zur Anschaffung.
Eine solche Empfehlung von volkspädagogisch interessierter Seite freilich ist nicht unbedenklich, und damit kommen wir zum geschichtspolitischen Problem. Wie eine eingesetzte Historikerkommission vor zwei Jahren monierte, war das Arendt-Institut, ein Kind der Wende, zu sehr in seinen Gründungsauftrag eingekapselt, die DDR-Vergangenheit im Lichte der Totalitarismustheorie aufzuarbeiten. Die Kommission empfahl der Politik, sich aus den Gremien des Instituts stärker zurückzuziehen, auch müsse das von der Landesregierung favorisierte allzu simple Totalitarismus-Paradigma, das SED-Staat und NS-Diktatur gleichsetze, dringend aufgelockert werden.
Verspieltes Vertrauen
Dass diese Ratschläge zu mehr als bloss kosmetischen Änderungen geführt hätten, ist bis heute nicht zu erkennen. Ein politische Rücksichten nehmender Geist weht fort. Sachsens Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, Michael Beleites, sieht den Fall Richter nicht nur als individuelles Problem, sondern auch als Desaster für das Arendt-Institut, in dessen Kuratorium er einst sass, uneingeweiht, während viele ringsum genau wussten, wie die Dinge lagen. Der NZZ sagte er:
«Wenn ein Institut, das die Diktatur-Verstrickungen aufdecken soll, die Stasi-Verbandelung des eigenen Mitarbeiters fünfzehn Jahre absichtlich unter dem Deckel hält, hat es sein Vertrauen für immer verspielt.»
Joachim Güntner