Süddeutsche Zeitung, 24.11.2010
Parteienlandschaft in Deutschland - Die Grünen sind die neue CDU
Ein Kommentar von Heribert Prantl
Grün ist die gesellschaftspolitische Leitkultur der Bundesrepublik. Der Naturbezug hat offenbar die Religiösität abgelöst und die Grünen sind die neue CDU. In dieser Situation kann die Partei sogar ihre Ideale opfern - nichts scheint ihr zu schaden. Solange sie nicht an der Macht ist.
Die Bundesrepublik erlebt ein grünes Wunder. Die Grünen stehen so gut da wie nie; und die anderen Parteien, deren Wunder vorbei ist, ärgern sich grün und blau. CDU/CSU und SPD schauen so bitter und so neidisch auf die Grünen, wie in der Bibel der Kain auf seinen Bruder Abel geschaut hat - als der Rauch von dessen Opfergabe geradeaus zum Himmel stieg, der Rauch des Kain'schen Opfers aber schwer am Boden herumkroch. Kain hat daraufhin den Abel erschlagen.
So weit gehen die Altparteien nicht, schon deswegen nicht, weil sie beide die Grünen zur Koalitionsbildung brauchen. Aber kleiner wollen sie die Grünen wieder machen. Und daher hauen sie beide auf die Partei drauf wie auf einen gemeinsamen Gegner, und zwar so sehr, dass CDU/CSU und SPD darüber ihre eigene Konkurrenz schier vergessen. Aus der Mitte der Gesellschaft sind die Grünen auf diese Weise nicht zu vertreiben.
Der Furor der großen Altparteien ist aber verständlich, weil die grüne Partei sich derzeit fast alles leisten kann, was sich die anderen Parteien nicht leisten können: Die Grünen können konsequent inkonsequent sein, ohne in der allgemeinen Gunst zu sinken; sie können ihre Ideale für die Macht opfern, sie können in der Opposition das Gegenteil sagen von dem, was sie in der Regierung gesagt haben - es scheint ihnen nicht zu schaden. Sie werden vom Zeitgeist getragen. Das ist nicht unverdient, denn die Grünen haben ihn mitgeschaffen. Sie ernten jetzt die Früchte der wilden und idealistischen Jahre, in denen sie als "Anti-Parteien-Partei" geackert und gesät haben.
So ein Zeitgeist kommt und geht. In den fünfziger und sechziger Jahren war er christlich. Das "C" stand für die gesellschaftspolitische Leitkultur der Bundesrepublik: Die meisten Deutschen gehörten noch einer christlichen Konfession an und das Christliche war ein Gewand, das ihnen nach der Nazi-Barbarei gut stand; dieses Gewand war aber auch weit genug, um die Leute im politischen und persönlichen Alltag nicht zu sehr zu beengen und einzuschränken.
Die fünfziger Jahre bis zur Mitte der sechziger waren daher die ganz große Zeit der CDU/CSU. In den siebziger Jahren stand dann das "S" für die gesellschaftspolitische Leitkultur der Bundesrepublik: Der Sozialstaat kümmerte sich in dem Maß, in dem der Wohlstand im Lande wuchs, nicht nur um das blanke Überleben der Bürger, sondern auch um ihre Lebensqualität. Das Land erlebte die größte Bildungsoffensive, die es je gab. Die Kinder kleiner Handwerker und strebsamer Facharbeiter kletterten zu Hunderttausenden auf der Strickleiter nach oben, die ihnen das Bundesausbildungsförderungsgesetz, das BAföG, knüpfte. Die siebziger Jahre waren die Jahre des großen sozialen Aufstiegs, sie waren die große Zeit der Sozialdemokratie.
Es gibt keine Lager mehr
Heute steht das "Ö", das Ökologische, das Grüne für die gesellschaftspolitische Leitkultur der Bundesrepublik: Für Natur, Umwelt, Umweltschutz, für gesunde Ernährung, grüne Wiesen und blauen Himmel, für Bio und Öko sind irgendwie alle. Nicht jeder weiß, was Nachhaltigkeit ist, aber fast jeder findet sie gut. Der Göttinger Politologe Franz Walter meint gar, der Naturbezug der Grünen habe die Religiösität der bundesdeutschen Gesellschaft abgelöst. Die grüne Partei ist dann die neue CDU. Sie ist als Partei so geschlossen, selbstbewusst und inhaltlich wolkig, wie es die CDU einst war. Die Grünen verkörpern einen neuen Typus von Volkspartei. Den alten Typus, den Typus, der auf vierzig Prozent und mehr kommt, wird es nicht mehr geben.
Das Volk von damals - das Volk, aus dem die Volksparteien CDU, CSU und SPD kamen - gibt es nicht mehr. Die alten Organisationsloyalitäten, die Prägungen durch Gewerkschaften, Kirchen und Arbeitswelt sind verschwunden oder schwächer; die großen Klammern gemeinsamer Erfahrungen sind kleiner geworden, darum sind auch die alten Volksparteien kleiner geworden. Es gibt keine Lager mehr. Dafür aber gibt es mehr und mehr und andere Klammern als früher; aber diese Verbindungen lösen sich auch schnell wieder.
Die stabilste Verbindung ist derzeit diejenige, die vom ökologisch- grünen Bewusstsein hergestellt wird. Das Lamento der anderen Parteien wird daran auf die Schnelle nichts ändern; ihre Kritik an den Grünen kann aber die Kernklientel von CDU/CSU und SPD bei der Stange halten. Die Altparteien können sich im Übrigen damit beruhigen, dass es für die Grünen Grenzen des Wachstums gibt: Die Partei ist eine Partei der Mittelschicht, eine Partei derer, die einen ökologischen und nachhaltigen, aber auch genussreichen Konsumstil und dabei doch eine kritische Attitüde pflegen. Diese Mittelschicht wächst nicht, sondern schrumpft.
Solange die Grünen im Bund in der Opposition sind, können sie den klassischen Politikbetrieb und den Protest dagegen verbinden - und auf diese Weise sowohl vom Parteienstaat als auch vom Zorn auf diesen Staat profitieren. Man nimmt es ihnen auch nicht übel, wenn sie auf der Straße Politik machen, weil der Protest dort zu einer bürgerlichen Aktionsform geworden ist. Das wird so lange funktionieren, bis die Grünen wieder regieren. Wenn die Altparteien ein Rezept für die Zerkleinerung der Grünen suchen: Es heißt nicht agitieren, sondern koalieren.