www.quo-vadis-dresden.de, 05.12.2010
Umpflanzung der Kampfzone
von Johannes Hellmich
Der Fuchs ließ im Stuttgarter Rathaus die Ungewissheit lange zappeln, bevor er ihr ein Ende machte, während draußen enttäuschte Bürger schon „Lügenpack“ und „Wir sind das Volk“ riefen. Dieses Volk hatte blitzschnell begriffen, was ihre Vertreter am Schlichtungstisch tapfer ignorierten: Das zentrale Ergebnis der Schlichtung, dass S21 bereits planfestgestellt sei und deshalb fortgeführt werden müsse, war zugleich auch Ausgangspunkt gewesen. K21 ist möglich, vielleicht sogar besser, aber das ist nicht mehr relevant.
Artig bedankten sich die Verlierer bei dem Schlichter, den sie selbst vorgeschlagen hatten. Was immer den grünen Landtagsabgeordneten Werner Wölfle dazu verleitet haben mag, seine und damit vieler anderer Hoffnungen auf den Unionsrebellen Geißler zu setzen; Bileam hat nun das Projekt gesegnet, das er verfluchen sollte.
Während Geißler vor laufenden Kameras weit ausholend das Unvermeidliche zusammenfasste, konnten Ministerpräsident Mappus, seine Umweltministerin Gönner und die Bahnvertreter ihren Triumph kaum verbergen. Dafür haben sie allen Grund. Eben hat der Parteienstaat auch außerparlamentarisch einen grandiosen Sieg eingefahren. Das umstrittene Bahnprojekt ist bestätigt und die eigene Wählerschaft befriedet. Einer Landtagswahl im kommenden März dürfen die Unionsfreunde im Südwesten wieder etwas gelassener entgegensehen. Damit kann auch die Privatisierung der Bahn unbeschadet durch ihre früheren Eigentümer, das Volk, fortgesetzt werden. Heiner Geißler bremst dennoch ein wenig die Euphorie. Weitere Proteste hält er nach seinem Votum für möglich. Die aber muss es sogar geben, soll die Aussicht auf Regierungswechsel und Volksabstimmung gewahrt bleiben. Stuttgarts Bürger während der Wintermonate ausreichend zu mobilisieren, wird schwer genug. Es ist ein Kampf gegen die Zeit. Auf der Bahnseite weiß Rüdiger Grube genau, dass jeder Tag, den er nun mit den Bauarbeiten wartet, den Sieg der Union im März und damit seinen Durchgangsbahnhof gefährden würde.
Nur, was soll ein Volksentscheid erreichen, wenn sich das Aktionsbündnis inzwischen über die erkämpfte Frischluftschneise freut? Mit seinem Schlichtungsvorschlag „Stuttgart 21 Plus“ schafft Geißler daneben eine Umkehrung der Kostenargumentation. Statt sich für explodierende Kosten des Projekts rechtfertigen zu müssen, können sich die Befürworter plötzlich als verantwortlich und sparsam profilieren: Alle nun entstehenden Mehraufwendungen sind Zugeständnisse an die Kritiker des Tiefenbahnhofs. Die Projektgegner, für die eben noch gerade Fragen der Dimensionierung zu Lasten eines Erhalts von Infrastruktur in der Fläche eine entscheidende Rolle spielten, werden zu Helfern einer optimierten Bauausführung. Eine vereinbarte Stresstestsimulation bietet ausreichend Möglichkeiten für planerische Mitwirkung. Die Hoffnung des Aktionsbündnisses, im Stresstest offenbarte Planungsmängel würden das Projekt noch kippen lassen, dürfte sich als Fehlspekulation erweisen. An einer zusätzlichen Finanzierung scheitert der Neubau sicher nicht. Das Herzstück des Geißler-Vorschlags aber ist zweifellos die Idee, die durch Gleisabbau freiwerdenden Grundstücke in eine Stiftung zu überführen und „ökologisch, familien- und kinderfreundlich, mehrgenerationengerecht, barrierefrei und zu erschwinglichen Preisen“ zu bebauen. Wer dieses Angebot einer öffentlichen Schlichtung ablehnen will, braucht sehr gute Argumente.
Entsprechend ambivalent sind die Reaktionen auf den Schlichterspruch auf Seiten des Aktionsbündnisses. Am deutlichsten wird wohl noch Gangolf Stocker, der mit seiner Enttäuschung zugleich die Hoffnung verbindet, man werde in seiner Stadt keine fünfzehnjährige Baustelle gegen den Willen der Bürgerschaft aufmachen. Was Bahnchef Grube jetzt noch davon abhalten sollte, kann freilich auch Gangolf Stocker nicht überzeugend erklären. Die Grünen stellen sich schon mal auf wachsenden Zuspruch für S21 Plus ein.
Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Grünen, registriert das genau und bietet am Samstag in Bruchsal Hoffnung nach allen Seiten. „Wir akzeptieren den Schlichterspruch. Nun werden wir darauf achten, dass alle Auflagen Geißlers eingehalten werden.“, ruft er.
Chancenlos auf Augenhöhe
War diese Niederlage abwendbar? Ist es überhaupt eine solche? Hat nicht vielmehr – wie allenthalben zu lesen ist – die Zivilgesellschaft gewonnen, weil Planungsrecht überarbeitet, weil Kommunikation verbessert und Bürgerinteresse künftig ernster genommen werden soll? Viel ist nun die Rede von Schlichtungen als Möglichkeit unmittelbarer Bürgerbeteiligung, ja sogar als Chance auf Reanimation einer zunehmend apathischen Demokratie. Gemessen an der auch von Geisler festgestellten Politikverdrossenheit ist freilich alles als Fortschritt zu werten. Die Vertreter des Aktionsbündnisses haben es selbst immer wieder als Erfolg bezeichnet, dass ihnen nun zugehört, dass auf Augenhöhe gesprochen wurde. Nach 60 Jahren bundesrepublikanischer Demokratieerfahrung eigentlich eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen.
Neben diesem gefühlten Erfolg gibt es jede Menge Versprechungen. Aus den Fehlern soll für die Zukunft gelernt, Alternativen sollen ernsthafter geprüft werden. Inflationär gebrauchte Stichworte sind: Mehr Transparenz, mehr Information, mehr Mitsprache betroffener Bürger. Was aber bleibt Substantielles außer schönen Worten? Eine Alternativenabwägung sieht das Planungsrecht bereits heute vor. Ob künftig mehrere Varianten parallel so geplant werden, dass auch zu einem späteren Zeitpunkt die Vorzugswürdigkeit einer favorisierten Ausführung bei veränderten Rahmenbedingungen nicht nur durch größere Planungstiefe begründet wird, scheint mehr als fraglich. An der Einflussnahme parteipolitischer Interessen inklusive ihrer meinungsformenden Infrastruktur auf die Willensbildung würde auch ein Schweizer Modell kaum etwas ändern. Das hat einen einfachen Grund: Die Zyklen einer repräsentativen Demokratie brauchen regelmäßig Wahlkampfthemen. Umstrittene Projekte gehören notwendig zum Beuteschema von Parteipolitik.
Alle wohlfeilen Mitbestimmungsermunterungen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich am grundsätzlichen Vorrang repräsentativer Entscheidungsfindung nichts ändern wird. Aber selbst wenn: Das Primat direkter Demokratie wäre nicht automatisch die bessere Lösung.
Unabhängig davon, ob sich die Schlichtungssuchenden der Konsequenzen bewusst waren: Die K21-Befürworter stecken in einer Glaubwürdigkeitsfalle. Akzeptieren sie den Schlichterspruch nicht, verspielen sie in der veröffentlichten Wahrnehmung leicht ihre Reputation als Demokraten. Für Konservative ist bereits das Festhalten von Grünen und SPD an einem Volksentscheid Beweis für mangelndes Demokratieverständnis. Freidemokrat und Staatssekretär Jan Mücke, der bereits in Dresden erfolgreich an der Zerstörung des Elbtales mitgewirkt hat, skizziert bei Welt online die Marschroute:
„Ich finde das Verhalten der Grünen in Bezug auf die Schlichterentscheidung ein starkes Stück“, sagte Mücke. „Sich jetzt hinzustellen und sofort wieder weitere Proteste anzukündigen, wie es Grüne und Linke machen, ist auch ein Schlag in das Gesicht des Schlichters.“ Schließlich hätten die Grünen die Schlichtung eingefordert. Selbst wenn es einen Volksentscheid über Stuttgart 21 geben würde und sich die Mehrheit für den unterirdischen Durchgangsbahnhof aussprechen würde, wären die Grünen wohl die ersten, die das Ergebnis infrage stellen würden, mutmaßte Mücke.
Ihn erinnere das Verhalten der Grünen an den Streit um die Waldschlößchenbrücke in Dresden. Erst hätten sie sich aktiv an dem Bürgerentscheid beteiligt. Nachdem sich aber die Mehrheit für den Bau der Elbbrücke ausgesprochen habe, hätten die Grünen das Votum massiv hintertrieben. Es sei ein fragwürdiges Demokratieverständnis, erst Formen direkter Demokratie einzufordern und dann Ergebnisse, wenn sie nicht passen, nicht zu akzeptieren. „Ich finde das nur noch empörend“, sagte Mücke.
Dass für die Union offenbar andere Maßstäbe gelten, spielt in der medialen Aufbereitung keine Rolle. Im Gegenteil. Mit Selbstverständlichkeit nahmen S21-Strategen noch vor Verkündung das Recht für sich in Anspruch, einen anderslautenden Schiedsspruch abzulehnen. Mappus stellte klar, dass er nur Empfehlungen unterhalb eines Baustopps akzeptieren würde. Geißler beschrieb den zugrundeliegenden Sachverhalt in seinem Schiedsspruch unter Punkt 2:
Das Verfahren war als Fachschlichtung gedacht, wobei offen blieb, ob diese in eine Ergebnisschlichtung verbunden mit einem Votum des Schlichters münden sollte. Es war klar, dass daraus keine rechtliche Bindung entstehen konnte, wohl aber eine psychologische und politische Wirkung die Folge war.
Während sich Union und Bahn also von vornherein hinter rechtsgültigen Verfahren verschanzen konnten, ohne dass andererseits die von ihnen gemachten Zugeständnisse Rechtsverbindlichkeit erlangt hätten, blieben die unangenehmen psychologischen und politischen Wirkungen dem Aktionsbündnis und – in seinem Gefolge – den Grünen vorbehalten. Die Gegner des Projekts hatten ohnehin mit dem psychologischen Nachteil zu kämpfen, dass Motivation und Zielrichtung ihrer Kritik am Großprojekt alles andere als homogen sind. Mit dem Ausstieg der Parkschützer hatte die Schlichtung die Ausgangslage von Union und Bahn bereits entscheidend verbessert. Eine gemeinsame Sprache des Widerstandes gab es damit nicht mehr. Medial blieben die Parkschützer fortan ausgegrenzt.
Junger Wein Hoffnung
Wenn die Stuttgarter Schlichtung ein Zukunftsmodell ist, dann wird dieser Prototyp nicht in Serie gehen. Um mehr zu werden, als ein weiteres Herrschaftsinstrument, hätte am Anfang dieses Demokratieexperiments ein sichtbarer echter Erfolg für die potentiell Schwächeren zumindest möglich sein müssen. Im sachlichen Vergleich der beiden Bahnhofsvarianten hatten die K21-Befürworter mehrfach die Vorteile ihrer Variante und Defizite der Bahn-Planungen herausstellen können. Überraschenderweise blieb das letztlich ohne Einfluss auf das Ergebnis der Schlichtung.
Schlichtung lebt von der Ungewissheit ihres Ausgangs. Diese Ungewissheit hat Heiner Geißler zugleich auch für alle weiteren Schlichtungen beseitigt. In den Medien werden Geißler und die Stuttgarter Schlichtung zwar zum Glücksfall der Demokratie überhöht. Tatsächlich wurde das Vertrauen der Bürger ein weiteres Mal schwer enttäuscht, die Chance auf einen wirklichen Neuanfang vertan. Die Ikonographie der Berichterstattung verdeutlicht das Ausmaß: Das Bild des Mannes, der im Stuttgarter Schlosspark durch Wasserwerfer sein Augenlicht verlor, ist abgelöst worden vom verschmitzt lachenden Politprofi Geißler.
Am Ende der Attischen Demokratie hatte die Kunst der Rhetorik ihren Höhepunkt erreicht. Sie bestimmte maßgeblich über Dominanz im öffentlichen Raum und damit über Machtverhältnisse. An die Stelle der Kraft des besseren Argumentes und des Ethos sind heute die versilberten Erkenntnisse von Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Verkaufspsychologie im Dienste der Parteien getreten. Machterhalt wird mit Glaubwürdigkeit bezahlt. Beinahe wäre das schiefgegangen. Heiner Geißler hat fast im Alleingang eine taumelnde Union stabilisiert. Damit füllt er den jungen Wein Hoffnung in alte Schläuche. Im Bibelwort gärt der Wein weiter und die alten Schläuche platzen. Beide kommen um.