Süddeutsche Zeitung, 18.05.2011
Unschuldsvermutung in Handschellen
Ein Kommentar von Heribert Prantl zu Dominique Strauss-Kahn
Die Unschuldsvermutung gehört zu den ehernen rechtsstaatlichen Prinzipien. Die öffentliche Vorführung des Beschuldigten Dominique Strauss-Kahn ist für Europäer befremdlich. Doch deutsche Staatsanwälte und Richter sollten sich, statt angewidert zu sein, an die Fälle Zumwinkel und No-Angels-Sängerin erinnern.
Die Justiz ist zuständig für das Urteil, nicht für das Vorurteil. Von ihr erwartet man, dass sie ihrer Arbeit nachgeht - ruhig, unvoreingenommen, sachlich. Man erwartet von ihr nicht, dass sie die öffentliche Geilheit befriedigt. Man erwartet von ihr auch nicht, dass sie die Beschuldigten schon vor dem Urteil durch Anprangerung bestraft.
Natürlich, gegen Beschuldigte muss ermittelt werden. Und Beschuldigte, die von der Polizei verhaftet worden sind, müssen dem Richter vorgeführt werden. Müssen sie auch der Öffentlichkeit vorgeführt werden?
Bilder sagen mehr als tausend Worte, heißt es. Was sagen also die Bilder von Dominique Strauss-Kahn? Die Bilder von seiner Abführung in Handschellen und von seiner ersten Vernehmung durch ein New Yorker Gericht erzählen von einer eher befremdlichen Interpretation der Unschuldsvermutung. Die Richterin hat im Gerichtssaal Kameraleute zugelassen, bei der allerersten Vernehmung, im frühesten Stadium des Ermittlungsverfahrens.
Amerikaner mögen an so etwas gewöhnt sein. Hierzulande schaut man auf die Bilder mit ungläubigem Staunen. In Europa wäre so eine Vorführung ein Fall für den Menschenrechtsgerichtshof, unabhängig davon, ob der Vorgeführte prominent ist oder nicht. Die Arbeit von Ermittlungsbehörden besteht in der Ermittlung des Tatgeschehens, nicht in der Demütigung des Beschuldigten.
Gewiss: Andere Länder, andere Sitten. Und deutsche Staatsanwälte und Richter sollten sich, wenn sie angewidert in die USA schauen, daran erinnern, wie 2008 aus der Durchsuchung der Wohnung des damaligen Postchefs Klaus Zumwinkel ein öffentliches Spektakel gemacht wurde. Auch bei der groß inszenierten Verhaftung einer Sängerin der No Angels ist 2009 die Unschuldsvermutung ad absurdum geführt worden. Diese soll Beschuldigte vor Nachteilen schützen, die einem Schuldspruch oder einer Strafe gleichkommen, wenn noch kein Verfahren zur Schuldfeststellung oder Strafbemessung stattgefunden hat.
Die Unschuldsvermutung gehört zu den ehernen rechtsstaatlichen Prinzipien; sie verlangt: Die Ermittlungsbehörden müssen so vorgehen, dass Beschuldigte nicht wie vernichtet dastehen, wenn sich ihre Unschuld herausstellt. Das ist nicht einfach zu verwirklichen, das funktioniert oft schlecht oder gar nicht. Jede Verhaftung ist ja eigentlich ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung. Aber solche Zwangsmaßnahmen dürfen nicht über den Ermittlungszweck hinausgehen. Bloßstellung ist kein Ermittlungszweck.
Strafverfahren in Amerika laufen völlig anders ab als deutsche. Die US-Staatsanwaltschaft muss nicht für und gegen, sondern nur gegen den Beschuldigten ermitteln; für seine Entlastung muss er selber sorgen. Das erklärt einiges, rechtfertigt aber nicht einen bizarren Umgang mit der Unschuldsvermutung. Dieser Umgang beschwert auch die Rechtsstaatlichkeit hierzulande - denn das US-Rechtsdenken und die US-Rechtspraxis haben heute weltweite prägende Kraft.