spiegel-online.de, 16:06 Uhr, 15.10.2011
Protest in Frankfurt - Triumph der Träumer
Menschen aus allen sozialen Schichten demonstrieren in Frankfurt und anderen Städten für ein gerechtes Wirtschaftssystem. Der kreative Protest zeigt: Es gibt ein Bedürfnis, die Welt zu verbessern.
Sie verachten den Finanzkapitalismus, und sie zeigen ihre Wut - jetzt auch in Deutschland. Menschen aus allen sozialen Schichten demonstrieren in Frankfurt und anderen Städten für ein gerechtes Wirtschaftssystem. Der kreative Protest zeigt: Es gibt ein Bedürfnis, die Welt zu verbessern.
Was braucht man für eine bessere Welt? Eine Welt mit einem fairen Wirtschaftssystem. Dafür haben am Samstag rund um den Globus Menschen demonstriert, allein in Frankfurt sind mehrere Tausend zusammengekommen. Und in der Stadt, in der Deutschlands Börse und große Banken ihr Hauptquartier haben, scheint das Rezept für eine bessere Welt zu lauten: Seifenblasen.
Die schießen Protestierende überall in Frankfurt aus bunt blinkenden Plastikpistolen in die Luft. Man kann sie, in all ihrer Zerbrechlichkeit, als Sinnbild der Proteste sehen.
Denn es fällt auf, dass am Samstag nicht nur die vielbeschworenen Wutbürger erwacht sind, sondern auch die Träumer. Viele Demonstranten sind weniger hier, weil sie gegen etwas sind (das System, die Boni-Banker, die Rating-Agenturen), sondern für etwas: Viele Menschen, die am Samstagnachmittag auf dem großen Platz vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt demonstrieren und tanzen, träumen vom Anbruch einer besseren Zeit.
Es sind Menschen dabei, die von sich sagen, dass sie nach langer Zeit wieder Lust bekommen haben zu demonstrieren. Die es plötzlich wieder chic finden, ein Weltverbesserer zu sein.
"Ich bin fuchsteufelswild"
Der Mann, der diese Bewegung maßgeblich in Gang gebracht hat, der dafür gesorgt hat, dass die Protestwelle von der Wall Street bis ins deutsche Finanzzentrum rollte, ist gerade mal 20 Jahre alt. Wolfram Siener, Pressesprecher und seit seinem Auftritt in der Talkshow "Maybrit Illner" heimlicher Anführer der "Occupy Frankfurt"-Bewegung, betreut den Protestzug in einem Zustand der Aufgekratztheit, der sich nur dann einstellt, wenn das Adrenalin den Schlafmangel niederkämpft.
Äußerlich hat Siener mit den Altachtundsechzigern, Gewerkschaftlern und Links-Partei-Anhängern, die seinem Aufruf gefolgt sind, nichts gemein. Er trägt eine braune Lederjacke, einen "21 Jump Street"-mäßigen Pullover und eine umgekrempelte Jeans. Manchmal, wenn er über Billigarbeiter in Indien redet oder über Hungersnöte in Afrika, wird er wütend. "Ich bin fuchsteufelswild", sagt er dann und wiederholt: "fuchsteufelswild."
Doch Siener ist kein Wutbürger. "Die Vision ist eine direktere Demokratie", sagt er, "in der die Bürger sich das Wirtschaftssystem nach ihren Vorstellungen formen und nicht umgekehrt. Das Parteiensystem kann das nicht leisten, aber ich glaube daran, dass das Internet eine neue Regierungsform hervorbringen wird, in der diese bessere Welt möglich ist."
Siener sagt das mit der Überzeugung, mit der Selbstüberschätzung eines 20-Jährigen, der glaubt, dass er die Welt aus den Angeln heben kann. Seiner Kritik an der Lohnschere, an Rating-Agenturen und an der Finanzkrise dürften viele der überwiegend älteren Deutschen, die zu seiner Demo gekommen sind, zustimmen. Und sein fester Glaube an den Wandel wirkt aufwühlend, wohl auch für Menschen, die schon resigniert hatten.
"Götterdämmerung, Baby"
Diesem Obama-Gefühl, dass der Wandel zum Guten doch noch möglich ist, begegnet man am Samstag überall in Frankfurt. Es wohnt den Sprüchen auf vielen Protestplakaten inne, Sprüchen wie: "Götterdämmerung, Baby", "R€volution" oder "Steuern den Palästen, Frieden den Häusern". Und man hört es heraus, wenn Menschen erklären, warum sie heute zur EZB gekommen sind.
"Es ist viel von systemrelevanten Banken die Rede", sagt etwa Michael König aus Saarbrücken. "Diese Systemrelevanz muss sich der Bürger zurückerkämpfen." König sagt, dass er für einen großen amerikanischen Konzern arbeite, der nach der Finanzkrise sein Weihnachtsgeld halbierte, um Aktionären weiter die versprochene Dividende zahlen zu können.
Doch es gibt unter den Protestierenden auch viele Menschen, die sagen, dass sie selbst von der Weltfinanzkrise gar nicht betroffen sind. "Mir geht es nicht schlechter als vor dem Lehman-Crash", sagt Tamara Wilder, eine blonde ältere Dame mit buntgeschecktem Schal. "Ich sehe es aber als meine soziale Pflicht an, hier Präsenz zu zeigen." Auch der inzwischen pensionierte Lehrer Rolf Klöver sagt, dass es ihm eigentlich gutgehe. "Ich würde mir aber wünschen, dass die Jugendlichen in den Schulen besser die komplexen Zusammenhänge zwischen Politik und Finanzmärkten erklärt bekommen. Deshalb bin ich heute hier."
Der Platz vor der EZB ist am Samstagnachmittag teils komplett mit Menschen belegt. Bis zu 5000 sind nach Angaben der Polizei gekommen, fünfmal mehr als die Veranstalter sich erhofft hatten. Menschen tanzen zu Sir-Taki-Klängen gegen die Hellas-Krise. Andere schwärmen aus und verteilen falsche Zehn-Euro-Scheine auf den Straßen um den Platz. Immer wenn sich ein Passant nach einem der Scheine bückt, freuen sie sich diebisch.
In der Nacht werden wohl die meisten Demonstranten wieder nach Hause fahren. Wie lange es in Frankfurt ein Protest-Camp wie an der Wall Street geben wird, steht noch nicht fest. Der erste, der sein Zelt aufstellt, ist Frank Stegmeier, ein Hardcore-Aktivist, der den Euro abschaffen will und seit April immer mal wieder vor der EZB aus Protest campiert. "Ich werde so lange hierbleiben, wie noch mindestens zehn andere Zelte hier stehen" , verspricht er.
Am späten Nachmittag stehen auf dem Platz genau 10 Zelte. Der Protest ist eine Goa-Party geworden, rund 200 überwiegend junge Menschen tanzen auf dem Platz. In einer Ecke allerdings ruft noch einer Parolen ins Mikrofon. "Heute ist nur Tag 1", sagt er. Beifall.
Über dem Platz schweben noch vereinzelt Seifenblasen, der Wind pustet manche in Richtung der Banken-Wolkenkratzer, bis sie auf dem Weg dorthin zerplatzen.
Von Stefan Schultz, Frankfurt am Main
Mitarbeit: Tobias Lauer