Süddeutsche Zeitung, 17.11.2011
Rechter Terror und Verfassungsschutz - Wenn der Staat versagt
Ein Kommentar von Heribert Prantl
Der Verfassungsschutz observiert mit Akribie kritische Demokraten - gewalttätige Neonazis lässt er in Ruhe oder beschäftigt sie als V-Leute. Bei solchen Fehlleistungen kann man sich verzweifelt fragen, ob nicht nur die NPD, sondern auch der Verfassungsschutz verboten gehört. Der Staat muss aus seinen Fehlern lernen - und nicht mit Vorschlägen wie einem Neonazi-Register vom Versagen ablenken.
Als es in diesem Jahr drei Monate lang kein gültiges Bundeswahlrecht mehr gab, war von einer "schlummernden Staatskrise" die Rede. Die jetzige Krise schlummert nicht. Sie siedet, sie kocht.
Seitdem bekannt geworden ist, dass eine Neonazi-Bande ungehindert, unerkannt und unverfolgt mordend durch Deutschland ziehen konnte; seitdem klar geworden ist, dass also die Verfassungsschutzberichte seit 15 Jahren falsch sind; seitdem die Innenpolitiker bekennen müssen, dass die Folgerungen, die sie auf dieser Basis gemacht haben, nicht tragfähig sind; seitdem jeden Tag neue Fehlleistungen des Verfassungsschutzes bekannt werden und immer neue Details über die Distanzlosigkeit, die zwischen einzelnen Verfassungsschützern und Rechtsextremisten herrscht - seitdem mag man sich verzweifelt fragen, ob womöglich nicht nur die NPD, sondern auch der Verfassungsschutz verboten werden sollte.
Solche Verzweiflung ist kein guter Ratgeber, aber sie ist verständlich. Die aktuellen Nachrichten handeln ja nicht nur von einer neuen Dimension des Terrors, sondern auch von einer neuen Dimension des Versagens der Sicherheitsbehörden. Pralle Säcke mit Fragezeichen werden derzeit zwischen den Ministerien, zwischen Berlin, den Landeshauptstädten und Karlsruhe hin- und her geschleppt: Sie betreffen die Täter, sie betreffen die Taten und die derzeitigen Erkenntnisse, die hinten und vorne nicht zusammenpassen, sie betreffen die verrückt anmutenden Fehler der Sicherheitsbehörden. Die Säcke sollen nun bei der Sonderkonferenz aller Innen- und Justizminister auf den Tisch geschüttet werden.
Gewiss: Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe ermittelt nicht "wegen Staatskrise", sondern wegen "Bildung terroristischer Vereinigungen" - aber damit indirekt auch wegen Staatsversagens, weil die zuständigen Behörden von dieser terroristischen Vereinigung offenbar nicht das mindeste mitgekriegt haben. Die Ermittlungen können eine Staatskrise zur Folge haben - zumal dann, wenn sich ergibt, dass es gegen Rechtsextremisten eine heimliche Linie der Schonung und Nachsicht gegeben haben sollte.
Immer mehr Menschen fragen sich, wer denn die Verfassung vor einem Verfassungsschutz schützt, der mit Akribie und Eifer kritische Demokraten observiert, aber gewalttätige Neonazis in Ruhe lässt oder als V-Leute beschäftigt. Wenn es dem Verfassungsschutz nicht gelingt, seine rechtsextremistischen V-Leute unter Aufsicht zu halten, darf man ihm dann geheimdienstliche, also grundrechtsaggressive Ermittlungsmethoden in die Hand geben?
Dem Verfassungsschutz sind in den Anti-Terror-Gesetzen, die soeben wieder verlängert worden sind, Abhörrechte und geheime Befugnisse abseits jeder Kontrolle durch die Justiz eingeräumt worden. Der Verdacht liegt nahe, dass diese Befugnisse nicht adäquat eingesetzt werden.
Aufstand der Unfähigen
Eine Duldsamkeit gegenüber dem Rechtsextremismus und die Unduldsamkeit gegenüber dem Linksextremismus könnte mit dem Kalten Krieg zu tun haben, in dem ein Teil der Verfassungsschützer groß geworden ist. Vierzig Jahre starrte die Bundesrepublik, hochgerüstet mit den Waffen der wehrhaften Demokratie, in den Osten. Als dann das Feindbild Kommunismus verblasste, wurden die Verbrechen der RAF mit dem alten Feindbild assoziativ verknüpft. Und als die RAF sich auflöste, wurde sie vom islamistischen Terrorismus substituiert. Der Gesetzgeber produzierte zwar Sicherheitsgesetze am laufenden Band - angewendet wurden sie aber gegen die Linksextremisten und die Islamisten.
Der Rechtsextremismus hat seine alten Einfluss-Sphären schon vor der deutschen Einheit, schon seit Mitte der neunziger Jahre, verlassen können. Ihm gelang der Generationensprung aus dem Ghetto der Altherrenvereine, ohne dass die demokratischen Alarmsysteme anschlugen. Er wurde eine verjüngte Bewegung, aber die demokratischen Parteien nahmen das nicht oder zu spät zur Kenntnis. Aus dem späten "Aufstand der Anständigen", nach einer Serie rechtsextremer Gewaltanschläge im Sommer 2000, wurde ein Aufstand der Unfähigen - als der Verbotsantrag gegen die NPD vor dem Bundesverfassungsgericht an seiner schlechten Begründung scheiterte.
Ein neuer Anlauf zu einem Verbot muss nicht falsch sein - weil die NPD als Durchlauferhitzer für Gewalt fungiert. Die Demokratie kann gewalttätige Neonazis aushalten, ein Einwanderer nicht. Ein Verbot der NPD kann also vorbeugender Opferschutz sein. Die Diskussion darüber darf aber nicht wieder so geführt werden, als handele es sich beim Verbot um den großen Exorzismus, der vom Neonazismus befreit. Sie darf auch nicht von den unfasslichen staatlichen Fehlern bei der Organisation von Sicherheit ablenken.
Zu diesen Ablenkungsmanövern gehören geplante neue Register und Organisationszentralen. Es gibt sie schon zuhauf; sie müssen nur vernünftig arbeiten. Und der Staat muss aus seinen Fehlern lernen: 2003 scheiterte das NPD-Verbot an der V-Leute-Seligkeit des Verfassungsschutzes. Daraus sind bis heute keine Konsequenzen gezogen, über eine rechtsstaatliche Regulierung der V-Praktiken ist nicht einmal nachgedacht worden. Jetzt fliegen dem Staat die Fetzen der Versäumnisse um die Ohren.