spiegel-online.de, 14:52 Uhr, 24.11.2011
Suche nach untergetauchten Neonazis - Halbe Kraft voraus
Ein Einzelfall? Oder ein Netzwerk?
Schnelle Aufklärung versprachen die Behörden nach der Aufdeckung der Zwickauer Terrorzelle, auch nach weiteren untergetauchten Neonazis wollten sie fahnden. Doch offenbar hat die Suche noch gar nicht richtig begonnen. Innenpolitiker sind entsetzt.
Berlin - Sie haben sich entschuldigt. Sie sprachen von einer "Niederlage" der Sicherheitsbehörden. Sie versicherten, alles dafür zu tun, dass nicht noch einmal eine braune Terrorzelle unentdeckt bleibt. Es waren überraschend offene Worte, die man von Spitzenbeamten der deutschen Sicherheitsbehörden in den vergangenen Tagen zu hören bekam. Kein Wunder: Der Fall der viel zu lange unentdeckten Zwickauer Terrorzelle und des selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) ist ein Desaster für Polizei und Verfassungsschutz.
Doch die Ermittlung zu den Morden oder Banküberfällen des NSU ist eine Sache - die mögliche Verhinderung eines ähnlichen Debakels eine andere. Also stand schnell die Frage auf der Tagesordnung, ob anderswo in Deutschland womöglich ähnliche Zellen im Untergrund operieren und Morde planen.
Am Montag dieser Woche brachte ein Spitzenbeamter der Bundesregierung diese Frage sogar selbst auf - und beantwortete sie auch gleich: Es werde eine verstärkte Anstrengung bei der "Aufenthaltsermittlung" möglicher weiterer untergetauchter Rechtsextremisten geben, teilte er mit. Es dürfe keine Zeit verloren werden - so die Botschaft.
Am Dienstag dieser Woche bat SPIEGEL ONLINE alle Landeskriminalämter um Auskunft, ob es in ihren Ländern nicht vollstreckbare Haftbefehle - also Fälle von möglicherweise untergetauchten Rechtsextremen gebe. Hintergrund: Das Terror-Trio aus Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos wurde 1998 zwar per Haftbefehl gesucht, aber trotzdem nicht gefunden. Ihr Aufenthaltsort war eben nicht feststellbar. Die drei hatten sich in den Untergrund begeben.
Überraschendes Ergebnis der Umfrage: Keines der Landeskriminalämter antwortete. Stattdessen wurde SPIEGEL ONLINE auf das Bundeskriminalamt verwiesen. Die Antwort des BKA kam an diesem Donnerstagnachmittag - und die dünnen Zeilen deuten darauf hin, dass die versprochenen Überprüfungen noch nicht einmal richtig begonnen haben.
Mögliche Fälle? Konkrete Zahlen? Keine Auskunft
Denn die Kriminaler warten anscheinend erst einmal auf einen förmlichen Beschluss der Innenministerkonferenz, bevor sie mit voller Kraft nach weiteren möglichen Untergrund-Nazis suchen:
"Sobald die Innenministerkonferenz die Einrichtung des Gemeinsamen Abwehrzentrums-Rechts beschlossen hat, wird dort umgehend mit der weiteren Prüfung auch zurückliegender Straftaten, insbesondere im Bereich der Tötungs- und Gewaltdelikte, begonnen. Hierbei werden sich die beteiligten Behörden auch mit Fragen der Vollstreckung offener Haftbefehle von Personen befassen, die der Politisch motivierten Kriminalität-rechts zuzuordnen sind."
Mögliche bisher bekannt gewordene Fälle? Konkrete Zahlen? Keine Auskunft. Zwar seien "entsprechende Überprüfungen" bereits "angelaufen". Aber nicht einmal, ob es überhaupt schon erste Ergebnisse gibt, mochte das BKA mitteilen: "Wir bitten daher um Verständnis, dass zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Aussagen getroffen werden können."
Die ausweichende Antwort ist umso erstaunlicher, als die Frage auch schon in der vertraulichen Sitzung des Bundestagsinnenausschusses am Montag eine große Rolle gespielt hatte. Ob es denn weitere rechtsextremistische Täter gebe, die per Haftbefehl gesucht wurden, die aber "nie mehr irgendwo erschienen sind", erkundigte sich der CDU-Mann Clemens Binninger in der Runde, zu der die Politiker die Chefs der deutschen Sicherheitsbehörden geladen hatten.
Die zeigten sich ratlos. "Das kann ich im Moment nicht verbindlich sagen. Bisher ist mir dergleichen nicht mitgeteilt worden. Aber ich kann das nicht völlig ausschließen. Das müssen wir klären", wird der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, in dem SPIEGEL ONLINE vorliegenden Wortlautprotokoll zitiert.
Als auch von den anwesenden Vertretern einiger Länderbehörden keine zufriedenstellende Antwort kam, war die Geduld der Parlamentarier jedoch am Ende. Dem Ausschussvorsitzenden Wolfgang Bosbach (CDU) platzte der Kragen: "Liebe Leute, jetzt muss ich aber einmal etwas sagen: Ich bin ja an und für sich gemütlich vom Wesen her", so der Ausschussvorsitzende. "Aber nach so einem Komplex muss man doch wissen, ob es Haftbefehle gibt und diejenigen, die man sucht, untergetaucht sind. Das ist doch das Erste, was man nachguckt: Gibt es nicht vollstreckbare Haftbefehle in dieser Szene? Das ist doch die Frage. Das kann man doch nicht mit Nichtwissen beantworten."
Im Protokoll ist ein Zwischenruf vermerkt: "Anscheinend ja!" Daraufhin fiel Bosbach nur noch ein sarkastisches "Ja, gut. Herzlichen Glückwunsch!" ein.
"Die ganze Republik erwartet die Antwort auf diese Frage"
Wenig später hakte Bosbach noch einmal nach, diesmal beim gerade ins Amt gekommenen Generalbundesanwalt Harald Range: "Ist Ihnen vielleicht etwas von der Nichtvollstreckbarkeit von Haftbefehlen gegen gesuchte Personen aus der Szene bekannt?" Antwort Range laut Protokoll: "Dazu kann ich nichts sagen. Wenn, dann müsste eigentlich die Polizei, also das BKA, etwas dazu sagen können; denn die Frage der Fahndung bei Haftbefehlen müsste man dort feststellen können."
Daraufhin meldete sich BKA-Chef Jörg Ziercke zu Wort: "Ich hatte ja eingangs ausgeführt, dass wir alle Altfälle untersuchen. Da sind wir dabei. Dazu gehören natürlich auch die Haftbefehle. Aber man kann nicht alles auf einmal machen."
"Da sind wir dabei?" Das ist offenbar eine Interpretationsfrage. Innenpolitiker sind empört: "Ich halte es für unglaublich, dass eine der zentralen Fragen in der derzeitigen Debatte um Rechtsterrorismus bisher nicht beantwortet werden kann", sagt SPD-Innenexperte Sebastian Edathy. Nach möglichen weiteren untergetauchten Neonazis zu forschen, müsse eigentlich oberste Priorität haben. "Für mich ist die Unwissenheit der Behörden in dieser Frage ein Beleg dafür, dass die Dimension der Problematik in den letzten Jahren überhaupt nicht erkannt wurde." Es sei aus seiner Sicht eine "Selbstverständlichkeit, zu wissen, mit wem man es auf dem Feld des Extremismus zu tun hat".
Hans-Christian Ströbele von den Grünen sagt: "Es darf nicht sein, dass hier auf die Innenministerkonferenz gewartet wird. Das ist doch die dringendste Frage im Moment, auch um die Sicherheit zu gewährleisten. Es sieht so aus, als hätten die Behörden den klaren Auftrag der Politik nicht verstanden."
Sein CDU-Kollege Bosbach ergänzt: "Die ganze Republik erwartet die Antwort auf diese Frage." Es sei schon merkwürdig genug gewesen, dass die im Innenausschuss anwesenden Verfassungsschützer ratlos gewesen seien, was weitere abgetauchte Rechtsextreme angeht. Dass aber nicht einmal die für Haftbefehle zuständigen Landeskriminalämter entsprechende Auskünfte erteilen können, nennt er "äußerst besorgniserregend". Bosbach sagt: "Wir müssen doch wissen: Handelt es sich bei der Zwickauer Terrorzelle um ein einmaliges, außergewöhnliches Phänomen - oder steckt da womöglich ein größeres Netzwerk dahinter?"
Spätestens auf der Sondersitzung des Innenausschusses in der kommenden Woche erwarte er Antworten, sagt Bosbach. Es dürfte eine heiße Sitzung werden.
Friedrich beruft Expertenkommission ein
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) setzt derweil anscheinend auf eine eigene Kommission, um die Aufklärung voranzutreiben. Wie dapd am Donnerstagnachmittag meldete, berief er eine hochrangige Expertengruppe ein, die in seinem Ministerium sogar einen eigenen Arbeitsstab erhält.
Die Kommission besteht demnach aus dem früheren Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes und des Bundesnachrichtendienstes, Hansjörg Geiger, dem ehemaligen BKA-Präsidenten Ulrich Kersten und dem früheren Bundestagsabgeordneten und CSU-Innenexperten Wolfgang Zeitlmann.
Schon ab der kommenden Woche soll die Kommission alle relevanten Akten der Polizei und der Geheimdienste aus Bund und Ländern zu dem Komplex NSU sichten und prüfen, wie Friedrich sagte. Außer einer bereits installierten Kommission der thüringischen Landesregierung und dem Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestags, die wohl weitgehend dieselben Akten sichten werden, ist dies nun die dritte Institution, die das Debakel aufklären soll.
Der Fall der Zwickauer Zelle, er sprengt schon jetzt viele Dimensionen.
Von Veit Medick und Yassin Musharbas