Karl Nolle, MdL

junge Welt, 24.11.2011

»Das ist ein scheinheiliges Doppelspiel«

Bertelsmann-Stiftung sorgt sich um Bildung der Deutschen und verdummt sie zugleich mit Hilfe von RTL. Ralf Wurzbacher im Gespräch mit Wolfgang Lieb.
 
Wolfgang Lieb ist Mitherausgeber der NachDenkSeiten (www.­nachdenkseiten.de ). Er war Staatssekretär im NRW-Wissenschaftsministerium und zuvor Sprecher des früheren Ministerpräsidenten Johannes Rau.

Der Spiegel titelt in seiner aktuellen Ausgabe mit »Wo die klugen Deutschen leben« und befaßt sich ausführlich mit dem »Lern­atlas 2011« der Bertelsmann-Stiftung. Obwohl die Bildungsstudie wenig Neues ans Licht befördert, sorgte sie dieser Tage für allerhand Aufsehen in den Medien. Was ist der Grund für den PR-Erfolg?

Dahinter steckt ein plumper Bauerntrick des »Agenda-Settings«: Der Spiegel entscheidet maßgeblich darüber, welche Nachrichten in anderen Medien verbreitet werden. In diesem Fall berichtet er »exklusiv« über einen »Lernatlas«, der das »Bildungsgefälle in Deutschland« darstellen soll. Weil Bildung ein aktuelles Thema ist und weil jede Region in dem Atlas vorkommt, schreiben nahezu alle Medien bis hinein in die Lokalteile den Spiegel-Bericht ab und übernehmen die Botschaft ohne jede journalistische Distanz.

Es wäscht also eine Hand die andere?

Richtig. Der Spiegel hat eine auflagensteigernde Titelgeschichte und die Bertelsmann-Stiftung kann ihr Image als Bildungsförderer aufpolieren. Hintergrund dieser Vermischung von Journalismus und PR ist eine enge wirtschaftliche Verflechtung: Der Bertelsmann-Stiftung gehören über drei Viertel der Anteile an der Bertelsmann AG, der Konzern hat wiederum beim Verlag Gruner + Jahr das Sagen, der wiederum eine Sperrminorität beim Spiegel-Verlag innehat. Im Spiegel zu Rudolf Augsteins Zeiten wäre wahrscheinlich diese Vermarktungsstrategie der Bertelsmann-Stiftung die eigentliche Story gewesen.

Zu Bertelsmann gehört auch der TV-Sender RTL. Warum sollte auch dieser Zusammenhang gewürdigt werden?

Das ist ein scheinheiliges Doppelspiel: Die Stiftung plädiert für »soziales und persönliches Lernen«, während der Konzern den Löwenanteil seines Gewinns mit einem Schmuddel-Sender einstreicht. Würden die Programme von RTL das Lernen fördern, wäre das ja schön und gut. Aber mit Doku-Soaps wie »Mitten im Leben« oder den »Schulermittlern« wird gerade Kindern und Jugendlichen eher asoziales Verhalten vorgeführt. Sie werden zudem durch verblödenden Fernsehkonsum vom »sozialen und persönlichen Lernen« geradezu abgehalten. Und das nur, um die Gewinne des Bertelsmann-Konzerns zu steigern, um dann mit einem Teil der Profite steuervergünstigt über die Bertelsmann-Stiftung den Wohltäter zu spielen.

Tatsächlich ist Bertelsmann hierzulande der wohl mächtigste Wegbereiter für die Privatisierung von Bildung. Wie wird das aus der Studie ersichtlich?

Der »Lernatlas« beschäftigt sich eigentlich überhaupt nicht mit der Schule. Er stützt sich, was die Leistungsmessungen betrifft, auf Altbekanntes – etwa auf die Pisa-Studien. In Umkehrung des Spruchs »Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir« sagt Bertelsmann: »Nicht in der Schule lernen wir, sondern im Leben«, also bei der Freiwilligen Feuerwehr, im Kirchenchor, beim Blutspenden oder bei einem Museumsbesuch. Wenn man die Lerngeographie so weit ausdehnt, dann spielen die politisch harten Themen der Bildungspolitik, nämlich Klassengrößen, Schulstruktur, gemeinsames oder getrenntes Lernen keine Rolle mehr. Der »Lernatlas« lenkt von diesen entscheidenden Streitfragen sogar regelrecht ab.

Gleichwohl plädieren die Bertelsmänner immer auch für »mehr Geld für Bildung«. Warum ist das mit Vorsicht zu genießen?

Weil »mehr Geld« bei Bertelsmann fast immer »mehr privates Geld« bedeutet. Für Bertelsmann ist Bildung, wie es in der Studie heißt, ein »Human- und Sozialkapitalfaktor«. Eine Investition in Bildung wird daran gemessen, wieviel Dividende sie für den einzelnen oder für die Gesellschaft bringt. Lernen ist also »Mittel zum Zweck«, um »glücklich und reich« zu werden und »das soziale und wirtschaftliche Wohlergehen« einer Region zu steigern. Entscheidend sei, »was jeder einzelne für sich selbst tut«. »Persönliches Lernen« ist nach dieser Lesart nichts anderes als die Abwandlung der liberalen Parole: Jeder ist seines Glückes Schmied. Das Kind eines arbeitslosen Migranten im Ruhrgebiet wird im »Lernatlas« als Bildungsversager stigmatisiert, weil es nicht Mitglied einer Bergmannskapelle ist. So wird Bildungspolitik auf den Kopf gestellt.

Karl Nolle im Webseitentest
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