sueddeutsche.de, 14:31 Uhr, 10.12.2011
Soziale Ungleichheit: Warum die Vermögenden mehr abgeben müssen
Ein Kommentar von Tanjev Schultz
In den USA will Präsident Obama den Millionären mehr abverlangen, in Deutschland plant SPD-Chef Gabriel höhere Steuern für Gutverdiener. Beide tun dies völlig zu Recht, denn in beiden Ländern driften die Einkommen immer weiter auseinander. Höhere Steuern sind dabei nicht das Resultat einer Neidkampagne gegen die Reichen. Sie sind im Gegentiel Neidprävention und sie garantieren die Stabilität der Demokratie.
Neid ist ein quälendes Gefühl, dem sich niemand freiwillig hingibt. Der Maler Giotto stellte den Neid um das Jahr 1300 als eine Schlange dar, die statt der Zunge aus dem Mund hervorschießt und dann die Augen des Neidhammels bedroht. Neid ist eine Todsünde - und wer sie begeht, foltert und bestraft sich gleich selbst. Deshalb trifft auch Politiker und Parteien der Vorwurf so hart, sie schürten den Neid der Bürger oder seien sogar selbst davon zerfressen.
Vorsorglich hat SPD-Chef Sigmar Gabriel seinen Genossen in dieser Woche zugerufen: "Lasst euch bloß nicht einreden, es ginge um Sozialneid!" Die Sozialdemokraten wollen Gutverdiener höher besteuern, weil sie das für ein Gebot der Gerechtigkeit halten. Und das völlig zu Recht. Die Einkommen in Deutschland driften seit Jahren immer weiter auseinander. Das untergräbt die Stabilität einer Demokratie, die sich zugleich als Sozialstaat versteht und daraus einen Teil ihrer Stärke bezieht. Es geht bei höheren Steuern nicht um eine Neidkampagne, es geht um Neidprävention.
Eine Gesellschaft, die zu viel Ungleichheit zulässt, treibt die Menschen in den Neid. Sie zerstört die Selbstachtung derjenigen, die schwer schuften und trotzdem auf keinen grünen Zweig kommen. Sie können es, wie der Philosoph John Rawls schrieb, "geradezu moralisch übelnehmen", dass sie neidisch gemacht werden. Der Neid ist in diesem Fall nicht mehr jenes hässliche, irrationale Gefühl, wie es zwischen Menschen auftritt, deren Lebensumstände gar nicht so verschieden sind. Es geht nicht mehr nur darum, dass der Nachbar einen etwas größeren Wagen fährt. Es geht um eine tiefsitzende Demütigung und eine Erosion des Glaubens an den Wert eigener Tüchtigkeit und Leistung.
Deutschland wird amerikanischer
Übertriebene Gleichmacherei lähmt die Leistungsbereitschaft in der Gesellschaft, aber ausufernde Ungleichheit kann die Innovationskraft ebenfalls bedrohen, mindestens jedoch den sozialen Frieden. In den USA hat Barack Obama gerade eindringlich vor einer sozialen Spaltung des Landes gewarnt. Auch er kämpft dafür, den Millionären mehr abzuverlangen und dafür die untere Mittelschicht zu entlasten. Das Thema wird die Wahlkämpfe in den USA und in Deutschland prägen.
Das Ergebnis jahrelanger Lohnzurückhaltung, verbunden mit Entlastungen für Vermögende und flexibleren Regeln auf dem Arbeitsmarkt, ist nun zu besichtigen: Die Spreizung der Löhne nimmt zu. Früher zählte die OECD Deutschland zu den eher "ausgeglichenen" Gesellschaften. Diese Zeit ist vorbei. In einer neuen Studie der Organisation liegt Deutschland nur noch im Mittelfeld der Industriestaaten. Das Land wird amerikanischer - in einer Phase, in der die USA die negativen Folgen krasser Ungleichheit immer stärker spüren und ihr Präsident sie gerne überwinden würde.
Steuern und staatliche Transfers tragen zwar in Deutschland weiterhin dazu bei, das Auseinanderdriften von Arm und Reich zu begrenzen. Doch der Umverteilungseffekt ist im vergangenen Jahrzehnt gesunken. Kein Wunder, dass sich manche neidvoll an die fernen Zeiten des Kanzlers Helmut Kohl erinnern, als der Spitzensteuersatz noch bei 53 Prozent lag (heute bei 42 Prozent).
In den kommenden Jahrzehnten werden etliche hohe Erbschaften ausgezahlt. Das wird die Unterschiede in der Verteilung von Eigentum und Vermögen noch verstärken. Weil die Erben oft gar nichts oder sehr wenig zu dem Reichtum beigetragen haben, der auf sie übergeht, provozieren sie den Neid noch stärker als gewöhnliche Gutverdiener. Es wird kaum reichen, wenn sie aufs Protzen und Prahlen verzichten, um Mitbürger, die notorisch leer ausgehen, nicht unnötig zu reizen. Die Vermögenden werden mehr abgeben müssen. Sie leisten damit einen Beitrag im Kampf gegen schwere Laster und Sünden: gegen den Neid, aber auch gegen Habgier und Maßlosigkeit.