Sächsische Zeitung, 28.03.2012
Wer blieb sitzen?
Mit enormem Aufwand verhandelt die Justiz gegen mutmaßliche Blockierer einer Dresdner Nazi-Demo im Februar 2011. Die Schuld der Angeklagten steht dazu in krassem Gegensatz.
Wenn das so weitergeht, kennt sich der Mann in Dresden bald besser aus als in seiner Heimat. Polizeidirektor Michael Tiemann ist Chef der Bereitschaftspolizei in Köln am Rhein. Seit Monaten jedoch hat er ständig an der Elbe zu tun. Der 49-Jährige ist am Amtsgericht der wichtigste Zeuge in bisher allen Strafprozessen gegen mutmaßliche Blockierer des verhinderten Aufzugs von Neonazis in Dresden am 19. Februar 2011.
Seit November hat Tiemann in sieben Verfahren ausgesagt, mindestens fünf weitere platzten, als der Polizist schon aus dem Rheinland angereist war. Manchmal sieht er sich dann ein wenig die Stadt an. „Im Zwinger war ich, die Madonna kenn’ ich und auch manchen anderen schönen Ort.“
Das Gericht tut sich schwer mit diesen kuriosen Prozessen. Die Vorwürfe gegen die Angeklagten sind eher marginal, aber der Widerstand von Wahlverteidigern erheblich, ebenso wie die öffentliche Kritik von meist linken Politikern. Die Staatsanwaltschaft fordert für die Angeklagten Geldstrafen im untersten Bereich, wenige Hundert Euro, deutlich niedrigere Strafen als für notorisches Schwarzfahren oder das Zeigen eines Stinkefingers. Teuer sind dagegen die Prozesskosten, die schnell ein Vielfaches der Geldstrafe ausmachen.
Die meisten Blockierer-Verfahren hat der zuständige Oberstaatsanwalt Jürgen Schär schon vor Anklageerhebung eingestellt – Studenten zahlten 150 Euro, Landtagsabgeordnete auch schon mal 700. Wer das ablehnte, findet sich früher oder später vor Gericht wieder. Mehr als 60 Prozesse stehen noch aus. Spötter geißeln die Verfahren längst mit dem bösen Schlagwort „sächsische Justiz“.
Michael Tiemann ist kein Spötter, auch wenn er allen Grund dazu hätte. Die sächsische Rechtspflege raubt ihm die Zeit. Vergangene Woche etwa hätte er eine Kurdendemo in Bonn mit seinem Einsatzstab vorbereiten müssen. Doch der Polizist war gleich zwei Tage am Stück in Dresden, um in drei Prozessen gegen eine Sozialpädagogin (45), einen Mechatroniker (24) und eine wissenschaftliche Mitarbeiterin der TU Dresden (27) auszusagen. Der Richter hatte eigens wegen Tiemann und einem weiteren Polizisten aus Dortmund die Verhandlungen auf die beiden Tage gelegt – das sparte den Beamten Zeit und den Angeklagten, im Falle ihrer Verurteilung, Kosten für Anreise und Übernachtung der Zeugen. Ob die Verurteilten dem Richter diese Kostenersparnis honorieren, ist offen. Alle drei wurden jedenfalls verurteilt. Doch bislang zeigen sie sich siegesgewiss und legten Berufung ein. Das wird ihre Kosten weiter in die Höhe treiben, sollte es bei den Schuldsprüchen bleiben.
Bislang waren fast alle Angeklagten überraschend schweigsam. Keiner hat gestanden, bei der Blockade mitgemacht zu haben. Dabei gehört es doch eigentlich zum Konzept des zivilen Ungehorsams, dass ein Beschuldigter die Strafe akzeptiert, weil er das aus seiner Sicht größere Übel, den Nazi-Aufmarsch, auf keinen Fall hinnehmen will. Oberstaatsanwalt Schär bestärkt das Schweigen indes in seiner Auffassung, dass die Angeklagten nicht gegen einen gesellschaftlichen Missstand protestierten, sondern den Staat und die Rechtsordnung nicht akzeptieren. Die Angeklagten aber sagen nichts. Oder nicht viel. Höchstens mal zum Beispiel, dass die Abreise der Nazis ja schon begonnen habe, als sie vor Ort waren. Eine Blockade sei deshalb gar nicht mehr möglich gewesen. Allein die TU-Angestellte begründete detailliert, warum sie zwar zeitweise vor Ort war, jedoch bewusst nicht blockiert habe. Es half ihr nicht. Sie war dabei. Zack, Geldstrafe.
Polizeidirektor Tiemann wird in dem einen oder anderen Prozess wohl auch in der zweiten Instanz gehört werden. Seine Aussage ist notwendig, um die gezielte Blockade zu belegen. Zimperlich ist der Beamte nicht: „Die Blockade war nur möglich, weil ihr massive Gewalttaten beim Durchbrechen unserer Sperren vorausgingen.“
Der 49-Jährige befehligte an jenem Sonnabend ein Dutzend Hundertschaften in der Südvorstadt, dem Brennpunkt der bislang schwersten Krawalle anlässlich des Jahrestages der Bombardierung Dresdens. Tiemanns Auftrag war, den Nazi-Aufmarsch zu sichern. Er formuliert es anders: „Wir schützten an diesem Tag das Grundrecht der Versammlungs- und Meinungsfreiheit.“ Ab 7Uhr sperrten seine Einheiten sämtliche Zugänge zur geplanten Nazi-Route. Sie sollten verhindern, dass Störer in die Zone eindringen oder gar blockieren. Es kam anders. Schon Monate zuvor hatte das Bündnis „Dresden nazifrei“ bundesweit mobilisiert, sich den Rechtsextremen entgegenzustellen. Tausende kamen, um friedlich zu demonstrieren. Doch es waren auch viele Gewalttäter da. Steine flogen, Barrikaden brannten. Kaum war eine Polizeikette durchbrochen, strömten Hunderte nach. Mittags um 12.30 Uhr saßen die ersten hundert Blockierer auf der neuralgischen Kreuzung Fritz-Löffler- / Reichenbachstraße, während die Ausschreitungen rundherum anhielten. „Weil die Blockade selbst friedlich war, wäre es unverhältnismäßig gewesen, sie mit Zwang aufzulösen“, sagt Zeuge Tiemann immer wieder.
Andernorts in der Südvorstadt wurden Störer indes mit Wasserwerfern vertrieben. Die Bilanz war verheerend. 80Verletzte hatte allein Michael Tiemann unter seinen Hundertschaften, insgesamt wurden 130 Polizisten verletzt. Noch immer ist nur ein Bruchteil der Taten aufgeklärt. Es gibt schon mehr als 900 Ermittlungsverfahren gegen Störer, Steinewerfer aus dem linken, aber auch dem rechten Lager.
Schneller jedoch hat die Polizei die Ermittlungen gegen friedliche Blockierer erledigt. Tiemanns Beamte hatten gegen 16.30 Uhr rund tausend Blockierer an besagter Kreuzung eingekesselt, um ihre Personalien aufzunehmen. Rund 800 brachen gewaltsam aus und flüchteten – etwa 200 blieben übrig. Gegen jeden von ihnen wurde dann ein Verfahren wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz eingeleitet. Reine Formsache. So einfach war das.
Einfach? Das kann man schon nach sieben Verfahren bezweifeln. Drei Prozesse beanspruchten mehrere Sitzungstage. Bisher gab es fünf Verurteilungen, aber auch zwei Freisprüche. Noch ist kein einziger Schuldspruch rechtskräftig. Auf allen Ebenen greifen die Verteidiger die Vorwürfe an: Es gab gar kein gültiges Gesetz, nachdem das Sächsische Versammlungsgesetz für nichtig erklärt worden war, argumentieren sie. War die Blockade nicht vielmehr eine der Nazi-Demo gleichwertige Versammlung? Ab wann wurde überhaupt blockiert, schon ab 12.30Uhr oder erst nach der dritten Aufforderung der Polizei, die Straße freizugeben, um 14.37 Uhr? Blieb es nur bei einem nicht strafbaren Blockade-Versuch, weil die Nazis ja nie losmarschierten? Mussten die Blockierer wissen, dass sie sich strafbar machen, wenn ihnen das nicht gesagt wurde? Konnten Schaulustige nicht zufällig in den Kessel geraten, etwa nach dem Ausbruch der 800? Das sind bis heute umstrittene Fragen. „Man kann doch niemanden verurteilen, der friedlich gegen Nazis demonstriert“, schimpft ein Anwalt.
Mancher Amtsrichter hat indes seine Blockierer-Prozesse wegen der offenen Fragen auf die lange Bank geschoben. Erst soll das Oberlandesgericht (OLG) eine grundsätzliche Entscheidung treffen. Verteidigerin Kristin Pietrzyk hatte nach der Verurteilung im ersten Prozess neben der Berufung auch eine Revision vor dem OLG beantragt. Ihr Mandant, ein 22-jähriger Dresdner Student, wurde im Dezember zu 300 Euro verurteilt (15 Tagessätze zu je 20 Euro).
Der Ausgang der Prüfung der Rechtsfragen ist ungewiss. Sie führt aber schon jetzt zu weiteren Verzögerungen. Die noch ausstehenden Hauptverhandlungen werden sich Monate, wenn nicht sogar Jahre hinziehen. Darunter sind auch prominente Angeklagte wie die Bundestagsabgeordneten der Linkspartei Caren Lay und Michael Leutert. Und auch die werden sich nicht so schnell geschlagen geben.
Von Alexander Schneider