Sächsische Zeitung, 16.06.2012
Sächsische Ermittler sahen kein rechtes Terrornetzwerk - Laut einem Experten erkannten die Behörden im Fall NSU zwar Indizien, aber kein Gesamtbild.
Sein Auftritt war präzise, sachlich und scharfsinnig. Mit einer markanten Analyse hat der Politikprofessor Fabian Virchow dem Landtagsuntersuchungsausschuss zur rechtsextremen Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) wichtige Erkenntnisse geliefert. Der in Düsseldorf lehrende Rechtsextremismusforscher richtete das Augenmerk vor allem auf die Arbeit des sächsischen Verfassungsschutzes.
Hätten die Sicherheitsbehörden die Mordserie an letztlich neun Migranten und einer Polizistin früher erkennen können? Zumal das NSU-Trio in Sachsen untergetaucht war? Bei der Antwort verwies Virchow auf die Berichte der Verfassungsschützer im Freistaat. In den 1990er-Jahren sei darin regelmäßig die Gefahr des Rechtsterrorismus benannt worden – etwa mit Warnungen vor „organisierter Militanz“ und „terroristischen Konzeptionen“. Seit der Jahrtausendwende fehlten diese Hinweise jedoch. Für Virchow ist das „paradox“. Die Morde hatten gerade begonnen.
Für Verschwörungstheorien ließ der Politologe am Freitag aber keinen Raum. Er glaubt, dass unter dem Eindruck des Verbotes des Neonazinetzwerkes „Blood and Honour“ („Blut und Ehre“) im Jahr 2000 auch der Erfolg staatlichen Handelns dokumentiert werden sollte. Sprich: Nach einem Verbot soll es kein Problem mehr geben. Auch die Verstrickungen zwischen den vor allem in Chemnitz und Zwickau aktiven „Blood and Honour“-Neonazis und den untergetauchten Rechtsextremisten Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe sei zu wenig thematisiert worden. Virchow: „Dem wurde offenbar nicht die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt.“
„Faschos“ in der DDR
Das Fazit des Wissenschaftlers: Sächsische Ermittler und Verfassungsschützer ahnten zwar eine Gefahr. Die von ihnen gefundenen Indizien haben sich aber „nicht zu einem Gesamtbild zusammengeschoben“. Es bleibe Spekulation, ob die Morde hätten verhindert werden können. Im Rückblick sei vieles leichter erkennbar.
Weitere Punkte: Virchow wies darauf hin, dass auch in der DDR Rechtsextremisten – „Faschos“ – aktiv waren. Nach der Wende hätten westliche Neonazis zielgerichtet um sie geworben. Der NPD attestierte der Politologe, in Sachsen in der Gesellschaft „verankert“ zu sein. Gleichwohl habe sich die Partei zum „organisierten Kern“ der extremen Rechten entwickelt.
Virchow war der einzige von vier Experten, der vor dem Gremium erschien. Andere sagten ab – aus Termingründen, aber auch aus Verärgerung über mangelnde Unterstützung ihrer Forschung. Strittig sind zudem Verfahrensfragen.
Von Thilo Alexe