Karl Nolle, MdL

Agenturen dpa, 19:36 Uhr, 02.07.2012

Experten im NSU-Ausschuss sehen sächsische Versäumnisse

 
Im Bund ist der Verfassungsschutzpräsident nach der Pannenserie um den jahrelang in Zwickau untergetauchten NSU zurückgetreten. In Sachsen sind noch keine personellen Konsequenzen in Sicht.

Dresden (dpa/sn) - Die Verteidigungslinie des sächsischen Innenministeriums im Fall der jahrelang in Chemnitz und Zwickau untergetauchten Rechtsterroristen bekommt Risse. Keiner der am Montag im NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags angehörten Experten sieht die Behörden des Freistaats bei der Pannenserie allein dadurch entlastet, dass Thüringen zu wenig Informationen herausgerückt hat.

Auf diesen, auch durch die Thüringer Schäfer-Kommission gestützten Umstand hatte zuletzt Innenminister Markus Ulbig (CDU) abgestellt - und in seinem Bericht an den Innenausschuss keine Fehler bei den eigenen Polizisten und Verfassungsschützern gesehen.

Die Opposition war erbost. Sie setzt nun auf den U-Ausschuss. Nach der Sommerpause sollen die Zeugenvernehmungen beginnen, neben Minister Ulbig dürfen auch LKA-Chef Jörg Michaelis und Sachsens Verfassungsschutzpräsident Reinhard Boos mit Vorladungen rechnen.

Am Montag waren zunächst drei Experten zu Gast, um die grundsätzliche «Sicherheitsarchitektur» zu beleuchten - zwei Rechtswissenschaftler sowie mit Grit Hanneforth die Geschäftsführerin des Kulturbüros Sachsen, einer seit Jahren bestehenden Beratungsstelle für den Umgang mit Rechtsextremismus.

Hanneforth stellte die Frage, ob es wirklich Zufall sei, dass Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe ausgerechnet in Sachsen Unterschlupf fanden. Dazu verwies sie auf die ausgeprägte Kameradschaftsszene im Freistaat, den jahrzehntelangen Aufbau von Neonazi-Strukturen und die Wahlerfolge der NPD.

Sie sprach zugleich von «systemischem Versagen». Das Problem am rechten Rand sei von der Politik in Sachsen jahrelang verharmlost worden. «Die behördliche Energie fließt in die Strafverfolgung, nicht in die Prävention», kritisierte sie und beklagte zugleich den Mangel an «zivilgesellschaftlicher Gegenwehr».

Rechtswissenschaftler Heinrich Amadeus Wolff von der Europa Universität Viadrina in Frankfurt/Oder nannte den Fall NSU eine «multikausale Katastrophe», deren Ursachen «im System und auch in der Handhabung des Systems» lägen. Es handele sich um ein «kollektives Versagen», da auch Ermittler außerhalb Sachsens den NSU nicht aufgespürt hatten.

Eine die Aufklärung verhindernde Gesetzeslücke vermochte Wolff nicht zu erkennen. Allerdings liege die Zusammenarbeit bisher im Ermessen der Sicherheitsbehörden, künftig sollte diese ihnen als verpflichtend vorgeschrieben werden.

Der Bielefelder Rechtswissenschaftler Christoph Gusy wies darauf hin, dass die Sachsen von ihren Thüringer Kollegen nicht alle Informationen zum NSU erhalten haben. Aber zur Kooperation gehörten immer zwei Seiten. «Seit 1998 gab es zahlreiche dichte Hinweise darauf, dass sich das Trio überwiegend in Sachsen aufhielt», betonte Gusy. Sowohl der sächsischen Polizei als auch dem Landesamt für Verfassungsschutz hätten sich «zahlreiche eigene Informations- und Entscheidungszuständigkeiten» geboten. Warum sie darauf teilweise verzichtet zu haben scheinen, sei eine «sehr interessante Frage».

Grünen-Obmann Miro Jennerjahn erklärte anschließend: «Sächsische Stellen waren zuständig für Beobachtung des Terrortrios und Verfolgung der in Sachsen begangenen Straftaten.» Beide Rechtswissenschaftler, Wolff und Gusy, hatten bereits vor drei Monaten im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags ausgesagt.

Im Bundesamt für Verfassungsschutz führt die NSU-Pannenserie nun zum Wechsel an der Spitze. Präsident Heinz Fromm räumt seinen Posten. Er bat am Montag Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich nach zwölfjähriger Amtszeit um Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand zum 31. Juli.

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Daniela Kolbe forderte Ulbig danach auf, für lückenlose Aufklärung in Sachsen zu sorgen. Anstelle «Persilscheine für sächsische Behörden» auszustellen, müsse offen mit Fehlern umgegangen werden. Nötig seien «Verantwortliche, die im Zweifel auch bereit sind, daraus Konsequenzen zu ziehen».

Die Linke-Obfrau im Dresdner U-Ausschuss, Kerstin Köditz, ging noch einen Schritt weiter. «Wer wirklich Konsequenzen aus dieser neonazistischen Mordserie ziehen will, darf nicht bei der Abberufung einzelner Beamter stehenbleiben», erklärte sie. Das Dilemma lasse sich «nur durch die Abwicklung der Ämter für Verfassungsschutz lösen».

Autor: Tino Moritz

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021936 Jul 12

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