Agenturen dapd 17:34 Uhr, 02.07.2012
Experten kritisieren Umgang mit Rechtsextremismus - NSU-Untersuchungsausschuss befragt erneut Sachverständige
Dresden (dapd-lsc). Vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des sächsischen Landtags zum möglichen Behördenversagen bei der Aufklärung rechtsterroristischer Verbrechen haben weitere Sachverständige Kritik geäußert. Der Bielefelder Rechtsprofessor Christoph Gusy bezeichnete die Zusammenarbeit zwischen den thüringischen und den sächsischen Strafverfolgungsbehörden am Montag als «unvertretbar schlecht». Auch in Sachsen habe es «strukturelle Defizite» bei der Kooperation von Verfassungsschutz und Polizei sowie bei der Kontrollzuständigkeit des Landtages gegeben.
Gusy, der sich mit der Konkurrenz und Kooperation von Behörden befasst, sieht Sachsen durch Thüringer Fehlverhalten keineswegs entlastet. «Aufklärung war nicht allein Sache der Thüringer», sagte der Jurist. Er könne nicht verstehen, dass der Verfolgungsdruck auf den Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) nach dem Jahr 2000 so erlahmte. Sachsens Ermittler seien von diesem Zeitpunkt an weitgehend passiv geblieben. Entgegen Aussagen des sächsischen Verfassungsschutzes äußerte Gusy den Verdacht, es könne Kontakte zwischen dem Geheimdienst und der NSU-Terrorzelle gegeben haben.
Behörden haben «systematisch versagt»
Die Geschäftsführerin des Kulturbüros Sachsen, Grit Hanneforth, sprach von einem «systemischen Versagen». Vor allem in den neunziger Jahren hätten sich «rechtsextreme Strukturen fast ohne Gegenwehr etablieren können». Das sei aber nicht allein mit Behördenversagen erklärbar.
«Rechtsextreme Gesinnungen störten lange kaum jemanden», stellte Hanneforth fest, deren Verein mobile Beratungsteams zum Rechtsextremismus in Sachsen organisiert. In den Kommunen habe es Gegenwehr lange Zeit schwer gehabt. Dem habe eine Politik der «staatlichen Selbstvergewisserung» gegenübergestanden. Als deren Höhepunkt wertete Hanneforth die Äußerung des früheren Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf, die Sachsen seien immun gegen Rechtsextremismus.
Weil Rechtsextremismus ein «soziokulturelles Alltagsphänomen» geworden sei, müsse auch gefragt werden, ob die drei mutmaßlichen Terroristen genau deshalb so lange unbehelligt in Chemnitz und Zwickau leben konnten. Es müsse doch auch ein Unterstützerumfeld gegeben haben, sagte Hanneforth. Sie schlussfolgerte, dass staatliches ordnungspolitisches Handeln allein nicht genüge. «Eine starke Zivilgesellschaft ist nötig», sagte sie.
Verfassungsrichter nimmt Landesregierung in Schutz
Weniger kritisch äußerte sich der Verfassungsexperte Heinrich Amadeus Wolff. Die sächsische Sicherheitsarchitektur bewege sich «innerhalb der bundesüblichen Variationsbreiten», sagte der Jurist von der Viadrina-Universität Frankfurt an der Oder. Wolff war Prozessvertreter der Staatsregierung bei der Normenkontrollklage der Opposition gegen das Versammlungsgesetz vor dem Landesverfassungsgericht. Die sächsischen Verhältnisse hätten die Terrorzelle «nicht besonders begünstigt», sagte Wolff.
Die mutmaßlichen NSU-Mitglieder aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt waren nach der Flucht aus Jena zunächst in Chemnitz untergetaucht, später wurde Zwickau ihr Wohnort. Die Gruppe lebte mehr als ein Jahrzehnt im Untergrund und wird für zehn Morde verantwortlich gemacht. Sie flog im November 2011 nach einem Banküberfall in Thüringen auf. Mundlos und Böhnhardt erschossen sich nach dem Überfall in einem Wohnwagen, als die Polizei anrückte. Zschäpe jagte laut Polizei das Haus des Trios in Zwickau in die Luft. Sie sitzt in Untersuchungshaft.
Von Michael Bartsch
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