spiegel-online, 19:40 Uhr, 05.07.2012
Schredder-Skandal bei Verfassungsschutz - Deckname Lothar Lingen
In der Schredder-Affäre beim Verfassungsschutz haben Ex-Geheimdienstchef Fromm und sein mysteriöser Referatsleiter ausgesagt - doch Erhellendes gab es wenig. Der Beamte, der den Löschbefehl gab, mochte nicht einmal seinen echten Namen nennen. Und ein neuer Geheimbericht wirft weitere Fragen auf.
Der Mann, der den deutschen Inlandsgeheimdienst in eine schwere Krise stürzte und seinen Präsidenten Heinz Fromm um seinen Job brachte, ist ein kleiner, schlanker Brillenträger in dunklem Anzug, mit weißem Hemd und Krawatte. "Typ langweiliger, seriöser Beamter", sagte einer der Teilnehmer der vertraulichen Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses am Donnerstagmorgen. Dort sollte der Beamte hinter verschlossenen Türen endlich Klarheit darüber bringen, wie es zu der umstrittenen Aktenvernichtung von mehreren V-Mann-Dossiers durch ihn gekommen war.
Viel jedoch sagte er nicht. Noch nicht einmal seinen echten Namen wollte der mittlerweile versetzte Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), Abteilung 2B "Forschung und Werbung", angeben. Stattdessen nannte er nur eine kuriose Tarnidentität. Deckname: Lothar Lingen. Alter: 54. Danach berichtete der auf den Geheimdienstfluren als "Mini" bekannte Beamte, wie "geschockt" er vom Rücktritt seines Präsidenten sei. In den letzten Tagen habe er kaum geschlafen, schließlich seien die 18 Jahre im Bereich Rechtsextremismus des Verfassungsschutzes immer eine Ehre gewesen.
Das Warum bleibt ungeklärt
Viel mehr allerdings kam nicht. Warum der Beamte ausgerechnet kurz nach der Aufdeckung der rechtsradikalen NSU-Zelle die Datensätze zu sieben V-Leuten aus dem Thüringer Heimatschutz, dem Ende der Neunziger auch das spätere Terror-Trio Uwe Böhnhard, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe angehörte, vernichten ließ? Und warum er diese Löschung nicht korrekt in die Aktenführung des Amtes eintrug und den Vorgang lange verschwieg? Das wollte er nicht sagen. Mit Verweis auf das gegen ihn laufende disziplinarrechtliche Ermittlungsverfahren verweigert Geheimdienstmann "Lothar Lingen" dazu jegliche Aussage.
Nur das grundsätzliche Prozedere der Aktenvernichtung zur "Operation Rennsteig" erklärte er den Parlamentariern, die Licht in die an Pleiten, Pech und Pannen so reiche Suche nach den 1998 in die Illegalität abgetauchten Rechtsterroristen bringen wollen. Heraus kam durchaus Überraschendes: Genaue Zeitvorgaben, wann welche Akten zu löschen sind, gibt es beim deutschen Inlandsgeheimdienst offenbar nicht. Mal bewahren die Sammler und Auswerter beim BfV die Deckblätter zu ihren V-Leuten fünf Jahre lang auf, mal sind es zehn Jahre oder gar fünfzehn Jahre.
Ganz ähnlich ließ sich später auch der noch amtierenden Amtschef Heinz Fromm vor dem Ausschuss ein. Zerknirscht raunte Fromm, den die Schredder-Affäre letztlich sein Amt kostete, er könne auf die Frage nach einer plausiblen Erklärung für den Vorfall keine "überzeugende Antwort" liefern. Vielmehr sei es durchaus möglich, dass der Vorfall, dessen Folgen für das Ansehen des Amtes bis heute nicht absehbar seien, niemals vollständig aufgeklärt werde, so Fromm in der öffentlichen Sitzung des Ausschusses.
Nervosität im Amt ist groß
Die Details aus Fromms Aussage offenbarten, dass sich die Geheimen vom Verfassungsschutz keineswegs an für alle Behörden geltende Regeln halten und darauf auch noch stolz sind. Vage erinnerte sich Fromm vor dem Ausschuss an ein Treffen mit den Chefs der sogenannten Beschaffungsabteilung aus seinem Haus. Erst damals, immerhin war er da schon mehrere Jahre im Amt, sei ihm bewusst geworden, dass die geltenden Gesetze für Datenlöschungen von seinen Leuten nicht beachtet worden waren. Vielmehr wurden bis damals einfach alle Akten behalten.
Die genauen Umstände der sogenannten Konfetti-Affäre beim Verfassungsschutz bleiben durch beide Aussagen vorerst im Dunklen. Auch ein zehnseitiger Abschlussbericht, samt knapp 60 Seiten Anhang, der dem SPIEGEL vorliegt, enthält in der Sache keine bahnbrechenden Neuigkeiten. Der Anhang enthält Berichte von V-Leuten sowie eine Auflistung zum zeitlichen Ablauf der Löschung, E-Mail-Verkehr zum selben Thema und auch Aussagen von vier Mitarbeitern des Verfassungsschutzes.
Am Mittwochabend schickte Fromm das Papier an das Bundesinnenministerium. Insgesamt existierten laut Fromm Akten zu 49 Rechtsextremisten. Der noch amtierende BfV-Chef betont in dem als geheim eingestuften Papier, dass keiner der im Zusammenhang mit der "Operation Rennsteig" angeworbenen Spitzel dem Trio oder dessen Umfeld angehörte. Die Vernichtung von sieben Akten und deren weitgehende Rekonstruktion ist inzwischen geklärt, aber nicht das Warum. Vielmehr gaben nur vier Mitarbeiter aus dem Umfeld des Referatsleiters dienstliche Erklärungen ab. Zwei Vorgesetzte aber verweigern laut Bericht derzeit "unter Berufung auf die Konsultierung eines Rechtsanwalts" jegliche Aussage. Die Nervosität im Amt ist groß.
Und dann streikt auch noch die Technik
Als Rechtsgrundlage für die Reißwolf-Aktion verweist der Präsident auf das Verfassungsschutzgesetz, wonach personenbezogene Daten zu löschen sind, wenn ihre Kenntnis für die Aufgabenerfüllung "nicht mehr erforderlich ist".
Dennoch kommt Fromm zu einem positiven Schluss: "Hinsichtlich des Meldeaufkommens zum THS (Thüringer Heimatschutz - d. Red.) können 100 Prozent, zu Klaridentitäten der ZP (Zielpersonen - d. Red.) 100 Prozent, zu erfolgten Zahlungen an VM (Vertrauensmann - d. Red.) 100 Prozent, zu weiteren biografischen Daten alle wesentlichen Angaben und zu Verwaltungsdaten ein unterschiedlich hoher Anteil rekonstruiert werden." Diese rekonstruierten Akten konnten die Abgeordneten aus dem Ausschuss am Mittwoch kurz einsehen, viele von ihnen aber wollen die Dossiers in den kommenden Tagen noch einmal prüfen.
Die Probleme des Inlandsgeheimdienstes sind offenbar gewaltig. Und im Moment hakt es sogar im Kleinen: Seinen Bericht an Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich schloss Fromm mit dem Hinweis, er habe die Richtigkeit der Angaben "nicht vollumfänglich" prüfen können. Schuld seien teilweise Ausfälle der IT-Systeme im BfV. Aber das werde nachgeholt.
Von Matthias Gebauer und Hubert Gude