spiegel-online, 17:14 Uhr, 19.07.2012
Thüringer Neonazi-Ausschuss: Akute Amnesie
Viele Zeugen vor dem Thüringer Neonazi-Ausschuss haben eines gemeinsam: Sobald die Fragen zu den Pannen des Verfassungsschutzes unbequem werden, flüchten sie sich in Erinnerungslücken. So auch der frühere Staatssekretär Lippert - dabei hatte er sich extra noch briefen lassen.
Hamburg - Michael Lippert wollte es möglichst schnell hinter sich bringen. "Guten Tag, Frau Vorsitzende, was ist hier bürokratisch zu erledigen?", fragte der frühere Innenstaatssekretär, als er vor den Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags zum "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) in Erfurt trat. Ein Mann der Tat - und der wenigen Worte. Vor allem, wenn es darum geht herauszufinden, warum rechtsextremistische Terroristen 13 Jahre lang im Untergrund morden konnten - ohne dass die Verfassungsschützer davon etwas ahnten.
Für Lippert, 68, der einst aus Bonn nach Erfurt kam, bestand die Gefahr von Rechtsextremen damals zumeist in "durchreisenden Chaoten", die Thüringen durchquerten, um rechte Aufmärsche in Hessen oder Franken zu besuchen. "Thüringen war als Transitland besonders betroffen, das haben wir sehr ernst genommen", sagte er vergangene Woche und relativierte gleichzeitig: Skinheads seien damals nicht in der Lage gewesen, Reden zu halten und zu mobilisieren, und erst recht hätten sie kein Potential gehabt, um Führungskräfte in der rechten Szene zu installieren.
"Sie waren politisch nicht verfestigt", so Lippert. Vielmehr habe es sich um einen "wirren Haufen" gehandelt, der sich an Tankstellen und Raststätten oder auf Konzerten getroffen habe, nur um zu randalieren. "Wir haben keine organisierten verdichteten rechten Strukturen bis 1994 wahrgenommen, das waren eher Rechts-Links-Auseinandersetzungen und spontane Entwicklungen."
Mehr konnte Lippert zur Aufklärung der beispiellosen Mordserie nicht beitragen. Oft befiel ihn akute Amnesie, dann sagte er Sätze wie: "Ich habe daran keine Erinnerung mehr" oder "Wehrsportgruppe Hoffmann? Kenn ich nicht". Mehrfach betonte Lippert, der von 1990 bis 1994 Staatssekretär und mit für den Aufbau des Thüringer Verfassungsschutz zuständig war, dass er seit 1994 keine "Berührungspunkte" mehr mit dem Innenministerium gehabt habe.
Was Lippert den Landtagsabgeordneten verschwieg: Vor seiner Anhörung im Neonazi-Untersuchungsausschuss versuchte er, sich Informationen aus dem Thüringer Innenministerium besorgen. Nach Recherchen von MDR Thüringen telefonierte er wenige Tage vor seiner Zeugenbefragung mit Polizeiabteilungsleiter Robert Ryczko.
Ging es nur um bloße Gedächtnisauffrischung?
Das Thüringer Innenministerium bestätigte, dass sich Lippert nach den Namen von Abteilungs- und Referatsleitern aus seiner Amtszeit erkundigt habe. Außerdem habe er mit Ryczko über damalige Polizeiaktionen gegen Rechtsextremisten gesprochen.
Lippert verschwieg bei seiner Anhörung in der vergangenen Woche nicht nur das Telefonat mit Ryczko - sondern auch ein Gespräch mit einem weiteren Beamten. Das Thüringer Innenministerium bestätigte, dass Lippert auch diesen Beamten nach Namen von Mitarbeitern aus seiner Amtszeit gefragt hatte. Der Ex-Staatssekretär habe wissen wollen, wer wann in der Abteilung gearbeitet habe, die den Verfassungsschutz kontrolliert. Außerdem habe er sich nach den Namen der damals führenden Beamten des Verfassungsschutzes erkundigt.
Lippert teilte SPIEGEL ONLINE mit, dass er sich in seiner "Eigenschaft als Zeuge vor dem laufenden Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags nicht in der Lage sehe, Fragen in der gewünschten Form zu beantworten". "Zu meinem Bedauern ist mir vom Thüringer Innenministerium der Einblick in die einschlägigen, vor vielen Jahren angelegten Akten verwehrt worden", so Lippert.
Die Mitglieder des Untersuchungsausschusses sind entsetzt. "Unser Vertrauen in den Aufklärungswillen der Landesregierung und der korrekten Information des Parlaments ist ein weiteres Mal zutiefst erschüttert worden", sagt Martina Renner, Obfrau der Linken. Es möge normal sein, sich im Vorfeld einer Zeugenvernehmung über damals agierende Personen und Sachverhalte bei seinem vormaligen Dienstherren zu informieren. Dies jedoch dem Ausschuss auf Nachfrage zu verschweigen und gar zu leugnen, sei es nicht. Dabei dürfte es sich im Gegenteil sogar um eine Straftat handeln.
Nicht die einzige Verfehlung des Polizeiabteilungsleiters
"Herr Lippert hat diese Kontakte dem Ausschuss verschwiegen, was den Verdacht nahelegt, hier ist weit mehr passiert als Gedächtnisauffrischung. Zumal erste Gespräche offenbar bereits zu einem Zeitpunkt erfolgten, als Herr Lippert noch gar nicht als Zeuge benannt war." Man müsse vielmehr befürchten, dass es auch Absprachen zum Aussageverhalten gegeben habe.
Peter Metz, SPD-Obmann im NSU-Untersuchungsausschuss, fordert gar die Ablösung von Robert Ryczko als Leiter der Polizeiabteilung im Thüringer Innenministerium. Es sei unentschuldbar, dass dieser entgegen einer Weisung des Thüringer Innenministers einen Zeugen vor seiner Befragung im Ausschuss gebrieft habe.
Zudem sei es nicht die einzige Verfehlung Ryczkos gewesen. Ryczko sei als Leiter der Polizeiabteilung bis zum 1. Juli 2012 auch dafür verantwortlich gewesen, dass Unterlagen verschiedener Thüringer Polizeidirektionen dem Ausschuss erst in der letzten Woche zugesandt worden seien. Der Schäfer-Kommission und dem Generalbundesanwalt hätten diese Akten bei ihren Ermittlungen nicht zur Verfügung gestanden.
Unklar ist bislang, ob der Polizeiabteilungsleiter und der andere Ministeriumsbeamte ihre Vorgesetzten im Innenministerium über die Telefonate mit Lippert hätten unterrichten müssen. Ryczko, derzeit im Krankenstand, räumte ein, dass er seit dem Arbeitsbeginn des Erfurter Untersuchungsausschusses im Februar dieses Jahres "gelegentliche Telefonate" mit Lippert geführt habe. Die aktuellen Entwicklungen über die Behördenpannen bei der Suche nach den untergetauchten NSU-Mitgliedern seien dabei jedoch kein Thema gewesen.
Von Julia Jüttner