Süddeutsche Zeitung, S. 10, 21.11.2012
Sumpfgebiete
Zwei Jahrzehnte ist es her, dass zwei 15-Jährige in Leipzig als Zwangsprostituierte arbeiten mussten. In dem Richter, der ihren Zuhälter verurteilte, wollen sie einen Freier erkannt haben. Zwei Prozesse versuchen sich an der Wahrheit.
Dresden - Die beiden Frauen stecken in gut sitzenden Kostümen, eine ist blond, die andere dunkelhaarig. Sie hocken sehr aufrecht und eng beieinander in dem weiträumigen Dresdner Gerichtssaal. Und sie starren wie gebannt auf den fetten Glatzkopf, der in der Mitte des Raumes auf dem Zeugenstuhl Platz genommen hat: Er war der Mann, der vor ziemlich genau 20 Jahren Mandy K. und Beatrix E., die damals beide gerade 15 waren, zur Prostitution in einem Leipziger Bordell gezwungen hatte. Heute sind die beiden Frauen wegen Verleumdung angeklagt. Nachdem der ehemalige Zuhälter Herbert W. 1994 mit einer vergleichsweise milden Strafe davon gekommen war, hatten sie in späteren Vernehmungen durch die Polizei behauptet, zu ihren "Kunden" im Kinderbordell "Jasmin" hätten auch zwei Leipziger Richter gehört. Das mochte die sächsische Justiz nicht auf sich sitzen lassen, und leitete 2008 ein Verfahren gegen die beiden Frauen ein. An die 30 Zeugen sollten nun in dem Prozess vor dem Dresdner Amtsgericht gehört werden, der Anfang November in Dresden begann. Schon am vierten Verhandlungstag aber ist Schluss, weil die beiden Frauen ins Krankenhaus kommen: Nachdem sie beinah einen ganzen Tag lang ihrem einstigen Peiniger, dem dicken Glatzkopf, gegenüber sitzen mussten, waren offenbar die alten Szenen wieder allzu gegenwärtig für sie geworden. Beatrix E. brach zusammen, und auch Mandy K., die nach den Erlebnissen in dem Kinderbordell jahrelang eine Therapie gemacht hatte, wurde für verhandlungsunfähig erklärt.
So ist der Prozess gegen die beiden Frauen vorerst unterbrochen. Unterdessen wird ein paar Türen weiter in einem anderen Dresdner Gerichtssaal praktisch derselbe Fall behandelt: Hier sind zwei Journalisten angeklagt, die vor Jahren über die Aussagen der beiden Frauen berichtet hatten. Um die Jahreswende 2007/2008 hatte der Fall des Kinderbordells mächtig Schlagzeilen gemacht, das Etablissement stand im Zentrum der sogenannten "Sachsensumpf"-Affäre, in der es um mögliche Verwicklungen zwischen Leipziger Richtern, Immobilienhaien und dem Rotlichtmilieu ging. Bis heute ist der Wahrheitsgehalt der Behauptungen, die auf ein teils sehr überzogenes Dossier des Verfassungsschutzes zurückgingen, nicht restlos geklärt; seit Jahren versucht ein Untersuchungsausschuss des Landtages Licht ins Dunkel der Affäre zu bringen.
Währenddessen hatten Dresdner Staatsanwälte allein an die 20 Verfahren gegen Journalisten eröffnet, die über die Vorgänge berichteten. Arndt Ginzel und Thomas Datt, zwei freie Journalisten aus Leipzig, die für den Spiegel und die Zeit arbeiteten, landeten schließlich auf der Anklagebank und wurden 2010 in erster Instanz verurteilt. Nun hat das Berufungsverfahren im Dresdner Landgericht begonnen. Der Ton ist harsch im Verhandlungssaal, immer wieder schnauzt der Vorsitzende die Verteidiger an, schneidet ihnen das Wort ab und betont, dass er schließlich die Verhandlung führe. Die Anwälte revanchieren sich mit einem Befangenheitsantrag. Denn der Richter Martin Schultze-Griebler, heute stellvertretender Präsident des Landgerichts, hat sich vor Jahren in einer juristischen Zeitschrift über die Berichterstattung zum "Sachsensumpf" geäußert - und zwar ausnehmend kritisch.
Der Befangenheitsantrag wird abgelehnt, als dann die Zeugenvernehmungen beginnen, wendet sich das Blatt. Teilweise erscheinen dieselben Personen, die auch im Prozess gegen die jungen Frauen vernommen werden sollen. Etwa der einstige Leipziger Richter Jürgen N., der heute als Rechtsanwalt in München arbeitet. Er hatte einst den dicken Glatzkopf mit einer vergleichsweise milden Strafe von vier Jahren und sechs Monaten belegt. Im Jahr 2008 löste seine Strafanzeige dann das Verfahren gegen die einstigen Zwangsprostituierten aus, denn eine der zwei Frauen hatte behauptet, damals unter den Freiern im "Jasmin" auch Jürgen N. gesichtet zu haben.
Ein Kernpunkt der Anklage in beiden Verfahren ist die Frage, wann die zwei Frauen die Justizbeamten als Bordellkunden beschuldigten: Erst 2008, als die "Sachsensumpf"-Affäre auf ihrem Höhepunkt war, oder früher - etwa 2000, als Leipziger Polizisten gegen "Jasmin"-Freier ermitteln wollten, weil sie einen Zusammenhang zu einem beinahe tödlichen Attentat in der Leipziger Immobilienbranche sahen.
Nach der Vernehmung von zwei Polizeibeamten und einer Staatsanwältin, die damals mit den Ermittlungen betreut waren, scheint die Sachlage klar: Die Polizisten hatten in 2000 offenbar regelwidrig den Mädchen Bildermappen vorgelegt, die nicht zu den Akten genommen wurden, sowie Vernehmungen in einer Polizeiwohnung vorgenommen. Mithin wäre womöglich weder den Frauen das Delikt einer vorsätzlich falschen Anschuldigung von Justizbeamten nachzuweisen, noch könnte die Berichterstattung der Journalisten als strafbare Handlung gewertet werden. In einem Artikel für das Online-Portal der Zeit hatten sie nämlich nur die Frage erhoben, dass die Ermittlungen der Polizei womöglich nicht rechtens gewesen sein könnten.
Da mag es kein Zufall sein, dass Richter Schultze-Griebler am Dienstag immer mal wieder das Wort "Freispruch" erwähnt. Noch aber läuft der Prozess, am Donnerstag ist der nächste Verhandlungstag.
von Christiane Kohl