spiegel-online, 14:16 Uhr, 03.04.2013
Europas Krise - Zeit für eine neue Sozialdemokratie
Eine Kolumne von Wolfgang Münchau
In Europa wütet eine Rezession, die Zahl der Arbeitslosen steigt auf neue Höhen - und was machen die Sozialdemokraten? Nichts. Sprachlos verfolgen sie die verheerende Sparpolitik der Konservativen. Es ist an der Zeit, dass sie ihren politischen Instinkt wiederfinden.
Die andauernde Rezession im Euro-Raum und der alarmierende Anstieg der Arbeitslosenzahlen überraschen mich nicht. Nach allem, was wir aus der Wirtschaftsgeschichte wissen, passiert genau das, wenn man in eine Rezession hineinspart. Nach neueren Erkenntnissen der Wirtschaftsforschung wissen wir, dass der Effekt dann besonders stark ist, wenn die Geldpolitik keine Spielräume mehr für Zinssenkungen hat. Genau das ist jetzt der Fall.
Mich überrascht ebenfalls nicht, dass die Konservativen in Deutschland und anderswo eine solche Politik befürworten. Die Zentrumspartei, die Vorgängerin der heutigen Christdemokraten, unterstützte die Deflations- und Sparpolitik Heinrich Brünings mit Begeisterung. Die heutigen Konservativen haben die frühen dreißiger Jahre aus ihrer Gedankenwelt verbannt. Sie haben nichts gelernt und nichts vergessen.
Was mich aber überrascht und schockiert, ist die Unfähigkeit der Sozialdemokraten, aus der von konservativer Politik verursachten Depression politisches Kapital zu schlagen. Die Arbeitslosenquote im Euro-Raum liegt jetzt bei zwölf Prozent. Man könnte annehmen, die Sozialdemokraten gingen auf die Barrikaden und rüsteten sich für die politische Machtübernahme. Doch in Wirklichkeit sind sie unfähig, die wirtschaftliche und soziale Katastrophe in ihren Heimatländern zu thematisieren.
Ein besonders eklatantes Beispiel für diese Unfähigkeit war das Interview von Gerhard Schröder im SPIEGEL. Schröder ist natürlich kein aktiver SPD-Politiker mehr. Er spielt jetzt gern den großen Staatsmann. Aber er hatte eigentlich immer einen politischen Killerinstinkt. Doch statt die Regierung anzugreifen, lobt er Angela Merkels Euro-Krisenpolitik - und dies, obwohl sie in einem großem Ausmaß für diese Rezession verantwortlich ist. Denn es war der von Merkel forcierte Fiskalpakt, der das prozyklische Sparen im gesamten Euro-Raum auslöste. Die einzige, kaum wahrnehmbare Kritik, die Schröder übte, betraf Merkels anfängliches Zögern und die hohen Kosten.
Deutschland leidet auf höherem Niveau
Auch Peer Steinbrücks Kritik an Merkel ist zwar vokal lautstark, inhaltlich aber eher nuanciert. Es ist eine Falle, die sich die Sozialdemokraten selbst gestellt haben. Irgendwann nach Helmut Schmidts Abgang hörten sie auf, sich für makroökonomische Zusammenhänge zu interessieren. Während der Wiedervereinigung waren sie unfähig, die eklatanten ökonomischen Irrtümer der Regierung politisch auszunutzen. Später positionierte sich Schröder als Auto-Kanzler, als Förderer der Industrie. Aus der Partei der Makroökonomen wurde eine Partei der Industrielobbyisten. Die Sprache der Industrie war schön griffig, nicht so abstrakt wie die Makroökonomie mit ihren der Intuition zuwiderlaufenden Theorien, etwa der, dass man in einer Rezession nicht sparen sollte. In der Industrie schnallt man in einer Rezession den Gürtel enger.
Für diesen Populismus, der der SPD den Machtgewinn für einige Jahre im vergangenen Jahrzehnt sicherte, zahlte die Partei einen hohen Preis. Denn die von einer konservativen Regierung angezettelte makroökonomische Krise ging an ihr fast spurlos vorbei. Die Partei hatte die Worte verloren, mit der sie eine solche Politik kritisieren konnte.
Jetzt kann man einwenden: Die Lage in Deutschland ist doch gut. Ich las neulich in einer großen Tageszeitung, die Wirtschaft würde in Deutschland brummen - was natürlich Unsinn sind, denn Deutschland steckt wie der Euro-Raum ebenfalls in einer Rezession. Der Unterschied ist: Deutschland leidet auf höherem Niveau. Aber auch in Deutschland steigt die Arbeitslosigkeit leicht. Und auch in Deutschland wird der lang erhoffte, kräftige Aufschwung zunächst einmal ausbleiben.
Den Sozialdemokraten fehlt das makroökonomische Denken
Was sollten die Sozialdemokraten also machen? Sie sollten eine Korrektur der Haushaltspolitik im gesamten Euro-Raum verlangen. Konkret heißt das: Griechenland und Spanien müssen zwar weiterhin ihre Haushalte konsolidieren. Daran führt kein Weg vorbei. Auch Italien muss seinen Konsolidierungskurs fortsetzen. Aber der Euro-Raum darf nicht insgesamt konsolidieren. Die Sparpolitik im Süden sollte also durch eine Expansionspolitik im Norden ausgeglichen, besser sogar noch überkompensiert werden, solange die Rezession wütet.
Damit wäre die Euro-Krise zwar nicht gelöst, aber weitgehend entgiftet. Der Süden konsolidiert, während seine Exportindustrie von der gesteigerten Nachfrage im Norden profitiert. Das würde zur Stabilisierung insgesamt beitragen. Wenn Norden und Süden aber gleichzeitig sparen, dann entsteht ein Ungleichgewicht, das uns immer tiefer in die Rezession treibt. Die Sozialdemokraten müssten also lediglich die Politik Schmidts der siebziger Jahre auf die Euro-Zone in diesem Jahrzehnt transponieren.
Die Sozialdemokraten der siebziger Jahre hatten aber unter dem Einfluss ihres ehemaligen Wirtschaftsministers Karl Schiller einen viel natürlicheren Instinkt für derartige Analysen und Argumente. Ihre Nachfolger haben diesen Instinkt verloren. Die fehlende Bereitschaft zu makroökonomischem Denken ist auch der Grund, warum die Sozialdemokraten nicht in der Lage sind, die globale Finanzkrise politisch für sich auszunutzen. Anstatt den großen Angriff zu wagen, verstricken sie sich in Symbolpolitik, wie etwa in der Forderung nach einer Finanztransaktionsteuer - als ob damit irgendein Problem eines auswuchernden Finanzsektors gelöst werden könnte.
Es geht um mehr als nur die richtige zyklische Wirtschaftssteuerung. Es geht um die große Systemdebatte unserer Generation. Ich würde begrüßen, wenn die Sozialdemokraten aus ihrem langen Winterschlaf aufwachten.