Berliner Zeitung, 08.05.2014
„Merkel ist Schröder dankbar“ - Interview mit Egon Bahr
Wenn sich einer mit Ostpolitik auskennt, dann Egon Bahr. Er war Willy Brandts engster Berater und plädiert bis heute für Wandel durch Annäherung. Im Interview spricht Bahr über den berechenbaren Putin, notwendigen Druck auf Kiew und die Rolle des Altkanzlers Schröder.
Herr Bahr, was würde der große Ostpolitiker Willy Brandt tun, um den Ukraine-Konflikt zu entschärfen?
Zu meinem Bedauern kann ich ihn nicht fragen. Aber in Kenntnis seiner Denkweise bin ich sicher, dass er mindestens drei Punkte fest im Auge behalten würde. Erstens: Ohne zu wissen, was von heute bis Weihnachten passiert, wird es im neuen Jahr Russland noch geben. Zweitens: Er wäre sicher, dass es auch die Ukraine noch geben wird – mit dieser tragischen Belastung, dass mitten durch das Land die Grenze zwischen dem lateinischen und dem orthodoxen Europa verläuft. Diese tragische Grenze hat schon zur Zerschlagung Jugoslawiens geführt, und keine Regelung, die wir finden können, kann das verändern. Der dritte Punkt wäre, dass es die USA und die unentbehrlich gewordenen Europäer noch gibt. Die drei Außenminister Deutschlands, Polens und Frankreichs haben gezeigt: Ohne Europa geht es auch nicht mehr.
Aber wie würde Brandt handeln?
Das sind erst einmal die Orientierungspunkte. Praktisches Handeln setzt voraus, dass man selbst agieren kann. Und das reduziert sich auf die Fragen: Wer sorgt dafür, dass die Separatisten vernünftig werden? Und wer sorgt dafür, dass die vorläufige Regierung in Kiew vernünftig wird? Beide können nur zusammen dafür sorgen, dass es einen Waffenstillstand gibt. Kiew muss über seinen Schatten springen und die Aktionen der Armee einstellen. Genau so die Separatisten. Sonst kann es auch keine Wahl am 25. Mai geben. Ob das passiert, ist die eigentlich spannende Frage der nächsten Tage.
Also müssten der Westen und Moskau ihren Einfluss auf die beiden Parteien stärker geltend machen?
Ja. Aber nun hat der Westen die tragische Komik entwickelt, erst zu sagen: der Putin soll seine Finger von der Ukraine lassen. Und jetzt erwartet er, dass Putin die Separatisten zur Ordnung bringt.
Kann der das überhaupt? Seinem Appell, das Referendum zu verschieben, sind die Rebellen nicht gefolgt.
Das ist für mich die entscheidende Frage. Ich weiß nicht, ob die Separatisten Putin noch folgen. Oder ob das Geister sind, die er mit gerufen hat und nun nicht mehr beherrschen kann.
Russland will an einer neuen Friedensrunde die Separatisten beteiligen. Die Ukraine lehnt das ab.
Aber anders geht es nicht. Das muss der Westen durch Druck auf Kiew durchsetzen.
Halten Sie Putin noch für glaubwürdig?
Darüber kann man streiten. Aber er ist berechenbar. Denn Washington und Moskau sind sich einig: Krieg darf es zwischen ihnen nicht geben. Nicht wegen Syrien, nicht wegen der Ukraine, schon gar nicht wegen der Krim. Das bedeutet de facto: Die Ukraine kann nicht Mitglied der Nato werden. Dazu kommt die Erklärung von Brüssel: Die Ukraine ist auf lange Zeit nicht reif für eine EU-Mitgliedschaft. Damit kann ich davon ausgehen, dass zwischen Russland und dem Westen die territoriale Unversehrtheit der Ukraine unumstritten ist.
Erleben wir eine Wiederkehr des Kalten Krieges?
Ich denke an die Zeit nach Obamas Amtsantritt, als er erklärte, er wolle mit Russland keine Konfrontation, sondern Kooperation: Niemand kann im Atomzeitalter mehr „siegen“. Also arbeiten wir besser zusammen. Das hat ihm den Friedensnobelpreis eingebracht, als Hoffnungsträger einer friedlichen Welt. Jetzt ist er aber konfrontativ eingestellt, auch aus innenpolitischen Gründen. Das ist enttäuschend. Aber immerhin hat er mit Putin vereinbart: Kein Krieg zwischen uns!
Aber Putin ist doch mindestens so konfrontativ, womöglich auch aus innenpolitischen Motiven…
Fragen Sie ihn mal. Ich weiß das nicht. Ich bin eigentlich überzeugt, dass der eine wie der andere der Analyse folgt, dass Kooperation weiter führt als Konfrontation.
Die deutsche Politik folgt Ihrem Ansatz der Konfliktlösung durch Gespräche. Aber wo bleibt der Erfolg?
Auch wenn es noch ein halbes Jahr so weiter gehen sollte, wird doch hoffentlich der Grundsatz bleiben: Jedenfalls keinen Krieg zwischen Ost und West! Wie lange wollen wir noch ausprobieren, wer eigentlich mehr ertragen kann? Wollen wir riskieren, dass die Russen die Hilfe für den Abtransport der Bundeswehr aus Afghanistan einstellen? Will Washington riskieren, dass die Russen ihre Hilfe beim Transport von Astronauten zur Weltraumstation einstellt? Das wäre doch verrückt.
Die westliche Sicht ist ja, dass die Eskalation von Putin ausgeht…
Ich kann das nicht entscheiden. Aber ich halte Putin für einen rationalen Menschen. Er kann kein Interesse an Chaos in der Ukraine haben. Ich denke, er hat vor allem ein Ziel: Eine föderale Ukraine, die keinem Block „gehört“, mit einem Status, der dem Österreichs oder Finnlands entspricht.
Was könnte man tun, um die Zusammenarbeit mit Russland wieder zu stärken?
Wir haben ja schon eine Pipeline, meinetwegen können wir noch eine zweite dazulegen, gerne auch am Schwarzen Meer, wenn das hilft, gemeinsame Sicherheit zu haben. Die brauchen unser Geld, wir brauchen deren Gas. Alles, was gemeinsame Interessen fördert, stärkt die gemeinsame Sicherheit.
Derzeit wird es aber eher als großes Unheil gesehen, dass der Westen so abhängig ist vom russischen Gas.
Das ist großer Unsinn. Wir können froh sein über das, was der Schröder da geleistet hat. Und sind es ja bisher auch gewesen.
Teilen Sie denn die Kritik an Schröders Geburtstagsfest mit Putin?
Natürlich nicht.
Schröder ist der Kanzlerin nicht in den Rücken gefallen?
Nein, überhaupt nicht. Sie wird es nie sagen, aber sie ist natürlich dankbar für das, was er gemacht hat.
Es fällt auf, das Ältere wie Sie oder Helmut Schmidt eher milde auf Putin reagieren…
Nein: Realistisch! Mein Freund Henry Kissinger gehört auch dazu.
Hat das etwas mit Ihren Kriegserfahrungen zu tun?
Das hat etwas mit den Erfahrungen zu tun, wie wir den Kalten Krieg beendet haben. Ohne diese Politik hätten wir weder die deutsche Einheit noch die Einheit Europas bekommen.
Das Gespräch führte Holger Schmale.