spiegel-online, 14:46 Uhr, 15.05.2014
Ungerechte Gesellschaft - Die Deutschen lassen sich zu viel gefallen
Eine Kolumne von Jakob Augstein
Unten mehr Armut, in der Mitte mehr Lasten - und oben mehr Geld. So steht es um Deutschland. Ungleichheit und Ungerechtigkeit nehmen zu. Von Gewerkschaften kommt kein Widerstand, von Medien kein Widerspruch.
"Beim ersten Mal / da tut's noch weh. / Da glaubt man noch / dass man es nie verwinden kann. / Dann mit der Zeit so peu a peu / gewöhnt man sich daran" (Hans Albers).
Der neue Deutschlandbericht der OECD gibt es uns schwarz auf weiß: Wir leben in einem Land, in dem die Ungleichheit zunimmt und die Chancen ungerecht verteilt sind. Aber die Deutschen spüren den Schmerz der Ungerechtigkeit nicht mehr. Sie haben sich daran gewöhnt.
Warum muss eine internationale Organisation kommen, um uns das Land zu zeigen, in dem wir leben? Weil gerechte Regeln und gleiche Chancen bei uns keine starken Fürsprecher mehr haben. Deutschland ändert sich - aber von den Gewerkschaften kommt zu wenig Widerstand und von den Medien kaum Widerspruch. Und was macht eigentlich die SPD?
"Unsere Kernbotschaft ist, dass Deutschland ein inklusiveres Wachstumsmodell verfolgen sollte. Basierend auf guten Löhnen, einem fairen Steuersystem, gleichen Bildungschancen für alle und höheren Bildungsinvestitionen." Der Generalsekretär der OECD Angel Gurría hat das am Dienstag in Berlin gesagt. Gute Löhne. Ein faires Steuersystem. Gleiche Chancen. Ausreichende Bildungsinvestitionen. All das sieht die OECD in Deutschland offenbar nicht gewährleistet. Dabei steht die Organisation nicht im Ruf, Hort linksradikalen Denkens zu sein.
Aber was tut der Wirtschaftsminister? Als Chef der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wäre er dafür eigentlich sowieso zuständig, wenn er von den internationalen Experten ermahnt wird, der Bildungserfolg sei immer noch stark vom sozioökonomischen Hintergrund der Kinder abhängig. Aber Sigmar Gabriel murmelt nur: "Das ist etwas, über das wir in Deutschland noch intensiver reden müssen." Das ist alles.
Die soziale Schere hat sich immer weiter geöffnet
Ob die Sozialdemokraten in der Regierung saßen oder nicht - die soziale Schere hat sich in Deutschland immer weiter geöffnet. 1970 verfügte das oberste Zehntel der Gesellschaft über 44 Prozent des gesamten Nettogeldvermögens. 2011 waren es 66 Prozent. Kein Wunder. Unser Steuersystem begünstigt die Unternehmen und die Reichen. Achtzig Prozent des Steueraufkommens stammen aus Lohn- und Verbrauchssteuern. Nur zwölf Prozent aus Unternehmens- und Gewinnsteuern. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler schreibt: "Die Verteilungsgerechtigkeit, der oberste Grundsatz jeder seriösen Steuerpolitik, wird bei der Distribution des erwirtschafteten Sozialprodukts krass missachtet."
Das Ergebnis: Die Reichen waren in Deutschland noch nie so reich wie heute. Sie haben sich in den vergangenen zwanzig Jahren schamlos selbst bedient - und man hat sie gewähren lassen. Hat man darauf vertraut, dass die Parteien, die Gewerkschaften, die Medien sich der Sache der Gerechtigkeit annehmen würden? Die Arbeitnehmer wurden im Stich gelassen. Am schlimmsten haben die Gewerkschaften versagt.
"Danke, lieber Herr Sommer, für Ihre Hingabe und Ihre Hartnäckigkeit, für Ihre Weitsicht und auch für Ihre Kompromissbereitschaft, wenn sie nötig wurde." So hat Bundespräsident Gauck gerade den scheidenden DGB-Chef gelobt. Tatsächlich. Unter Sommer waren die Gewerkschaften so "kompromissbereit", dass die Vorstände der DAX-Unternehmen in aller Ruhe ihr Salär von 500.000 DM im Jahr 1989 auf durchschnittlich sechs Millionen Euro im Jahr 2010 wachsen lassen konnten - erst zwanzigmal so viel wie ein durchschnittlicher Arbeitnehmer, dann zweihundertmal. Rechtfertigung? Keine. Eine Frage der Macht, nicht der Moral.
Irrwitzige Ungerechtigkeiten
Auch auf die Medien war kein Verlass. Als zum letzten Mal eine große Gewerkschaft die Machtfrage stellte - die IG-Metall im Osten im Jahr 2003 - da nannte der SPIEGEL das "absurd", die "Süddeutsche" sprach von "Irrsinn", das "Handelsblatt" von "Anmaßung" und die "Zeit" von "Machtspielen zum falschen Zeitpunkt". Die Wahrheit ist: Die Medien haben den Weg in die Ungleichheit freundlich begleitet. Der Metallerstreik scheiterte damals jämmerlich. Und seitdem gilt in Anlehnung an ein berühmtes Wort über einen Politiker der britischen Konservativen: Ein Angriff der deutschen Gewerkschaften ist wie der Angriff eines toten Schafes.
Jetzt wäre Gelegenheit, eine der irrwitzigsten Ungerechtigkeiten zu beenden: während Einkommen aus Arbeit mit bis zu 45 Prozent besteuert wird, zahlt man auf Kapitaleinkünfte nur 25 Prozent. Peer Steinbrück hatte die Regelung seinerzeit eingeführt. Er beantwortete das Problem der Kapitalflucht damit, auf den Rechtsanspruch des Staates zu verzichten anstatt ihn durchzusetzen. Aber jetzt ist das Problem erledigt: Selbst die Schweiz und Singapur sind vor ein paar Tagen einem Abkommen der OECD beigetreten. Ab 2017 wird es zwischen den 50 wichtigsten Staaten der Welt kein Bankgeheimnis mehr geben.
Jetzt gibt es keine Ausrede mehr: Zinsen müssen normal besteuert werden. Und dieses Geld könnte man nutzen, alle Menschen, die von ihrer Arbeit leben und nicht von ihrem Geld, zu entlasten. Wenigstens einmal könnte man die Umverteilung von unten nach oben stoppen.
Die CSU hat schon mal gesagt, dass das überhaupt nicht infrage kommt.