www.welt.de, 23:30 Uhr, 25.05.2014
Verfassungsschutz weiß mehr, als er zugibt. Viel mehr
Die mörderische Geschichte des Nationalsozialistischen Untergrunds ist längst nicht aufgeklärt. Der Verfassungsschutz weiß mehr, als er zugibt - viel mehr. Er macht aber ein Staatsgeheimnis daraus. Von Stefan Aust und Dirk Laabs
Tote Täter sind bequem. Wenn sie Selbstmord begangen haben, gilt das als Schuldeingeständnis. Sie haben sich selbst verurteilt – zum Tode. Der Fall ist gelöst. Aber tote Täter können auch kein Geständnis ablegen, keine Fragen beantworten, sich nicht verteidigen.
Mehr als zehn Jahre lang fahndete die deutsche Polizei nach einem oder mehreren Serienmördern, die neun Menschen mit Migrationshintergrund ermordet hatten (Link: http://www.welt.de/themen/nsu/) . Man suchte vor allem im Bereich der organisierten Kriminalität. Dann, am 4. November 2011, lag die Lösung des Rätsels in Form von zwei Toten in einem Campingwagen (Link: http://www.welt.de/128275624) . Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatten sich nach einem Bankraub auf der Flucht vor der Polizei erschossen und zuvor ihr Fluchtfahrzeug, einen weißen Camper, in Brand gesetzt.
Die Beweise lagen gleich daneben: In einem Rucksack waren mehrere DVDs mit einem Bekennerfilm verstaut, der die Mordserie nach Art des TV-Comics "Pink Panther" beschreibt. Und es fand sich noch mehr: unter anderem eine Dienstwaffe, die einer jungen Polizistin abgenommen worden war, nachdem unbekannte Täter sie 2007 in Heilbronn erschossen hatten. Weitere Beweismittel wurden in den Resten eines ausgebrannten Hauses in der Frühlingsstraße in Zwickau gefunden, das Beate Zschäpe (Link: http://www.welt.de/themen/beate-zschaepe) in Brand gesetzt haben soll, bevor sie sich der Polizei stellte.
Seitdem scheint klar: Ein terroristisches Trio, das sich NSU, Nationalsozialistischer Untergrund, nannte, hat die Morde begangen, allein, wenn auch mit Unterstützung alter Kampfgefährten aus dem gewalttätigen rechtsextremistischen Milieu. Der Prozess gegen die Überlebende des "Terrortrios", Beate Zschäpe, läuft seit über einem Jahr in München, fünf weitere mutmaßliche Unterstützer stehen mit ihr vor Gericht. Wie aber konnte diese Gruppe jahrelang unentdeckt morden? Das beschäftigte in Deutschland vier parlamentarische Untersuchungsausschüsse. Fünf Präsidenten von Verfassungsschutzbehörden sind inzwischen zurückgetreten oder wurden in den Ruhestand versetzt, vor allem weil nach dem Auffliegen des NSU flächendeckend Akten vernichtet – oder zurückgehalten – worden sind.
Das Versprechen
23. Februar 2012, Berlin – Gedenkveranstaltung für die Opfer des NSU. Die politische Elite des Landes versammelt sich im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Eine Schülergruppe stellt zwölf Kerzen auf einen schmalen, schwarzen Tisch, der im Zentrum der Bühne platziert wurde. Zehn Kerzen stehen für die Mordopfer, eine elfte für die unbekannten Opfer rechtsextremistischer Gewalt, die zwölfte Kerze symbolisiert die "Hoffnung".
Angela Merkel (Link: http://www.welt.de/themen/angela-merkel) sieht in der ersten Reihe einige der Hinterbliebenen sitzen. Sie sagt, an einem schwarzem Pult stehend: "Niemand kann den Schmerz, den Zorn und die Zweifel ungeschehen machen. Aber wir alle können Ihnen heute zeigen: Sie stehen nicht länger allein mit Ihrer Trauer. … Wir trauern mit Ihnen. Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen."
Doch die Realität im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) ist schon seit Monaten eine völlig andere. Ausgerechnet in der Behörde des Bundes, die den rechten Terror verhindern sollte, wird nicht "aufgeklärt" und "aufgedeckt", sondern vertuscht und vernichtet. Seit sich im November 2011 der Nationalsozialistische Untergrund selbst enttarnt hat, hatten führende Mitarbeiter des BfV systematisch Akten geschreddert, die vor allem eines zum Thema hatten: rechtsextreme V-Männer, also Neonazis, die man in der Nazi-Szene als Informanten rekrutiert hat.
Als die Kanzlerin ihre Rede hält, sind die Mitarbeiter des BfV noch lange nicht damit fertig, Akten zu vernichten, obwohl sie bereits sehr fleißig waren. Nach dem 29. Dezember 2011 wurden 137 Akten aus dem Forschungs- und Werbungsbereich geschreddert. Im Abschlussbericht des NSU-Ausschusses wird es trocken heißen: Dabei habe es sich im Einzelnen gehandelt um Forschungs- und Werbungs-Vorgänge aus 1993–1994. Diese Forschungs- und Werbungsvorgänge aus 1993–1994 seien nicht rekonstruierbar.
Militante Neonazibewegung in der DDR
Seit 1993 hat der BfV seinen Kampf gegen die deutsche Neonaziszene intensiviert. Das war auch die Phase, in der Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und andere ihrer späteren Unterstützer bereits aktiv in der rechten Szene mitmachten.
Monate nach dem Fall der Mauer war das Bundesamt bereits gewarnt worden – in der DDR habe sich eine große, militante Neonazibewegung, zum Teil mit Duldung der Staatssicherheit, entwickelt, die bald nicht mehr unter Kontrolle sein würde, wenn man nicht schnell reagiere. Die Warnungen ignoriert man im Amt zunächst.
Erst als 1992 fast jedes Wochenende Flüchtlingsheime in ganz Deutschland angegriffen wurden, Polizisten nicht in der Lage waren, Asylbewerberunterkünfte zu schützen, wie beispielsweise in Rostock-Lichtenhagen, Menschen in Häusern in Mölln und Solingen verbrannten, reagierte man im Kölner BfV. Man hatte inzwischen Angst, dass aus der spontanen Gewalt organisierter Terror werden konnte. Die Abteilung II – zuständig für Rechtsextremistische Bestrebungen – rekrutierte viele neue junge Agenten. Einer dieser Männer bekam den Decknamen Lothar Lingen.
Lingen, Politologe, 1992 gerade 34 Jahre alt, hatte sich beim Landesamt für Verfassungsschutz in Stuttgart und auch beim Bundesamt zunächst mit Linksextremisten befasst. Dann wurde er Chef einer Einheit, die schnell auf die Welle der Gewalt reagieren sollte – indem man vor allem Informanten in der Szene rekrutierte. Lingen erinnert sich später vor dem NSU-Ausschuss in Berlin: "Anfang der 90er-Jahre gab es einen sprunghaft ansteigenden Rechtsextremismus, besonders in den neuen Bundesländern: Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen. Überall bildeten sich Kameradschaften. Die NPD (Link: http://www.welt.de/themen/npd) erstarkte relativ schnell, und die damals sehr virulente Skinheadbewegung spielte, was Gewalt anging, eine wichtige Rolle. Ich habe mich damals für den Bereich Beschaffung beworben, weil dort – natürlich, klar – ein Referatsleiter gesucht wurde und mich auch die Aufgabe gereizt hat, eben V-Leute anzuwerben, um von ihnen Informationen zu bekommen. Das war damals für mich Neuland, der ich fünf Jahre in der Auswertung gesessen habe." Ein Anfänger sollte also mit der Situation fertig werden, die in dieser Zeit mit jedem Monat bedrohlicher wurde.
Blutjunge Nachwuchsnazis
Neonazis aus West und Ost reisten nach Kroatien, erlebten den Bürgerkrieg mit, lernten, wie man tötet. Sie kamen zurück nach Deutschland und brachten Waffen mit. Einige der gefährlichsten verurteilten Rechtsterroristen aus der alten Bundesrepublik kommen zu dieser Zeit auf freien Fuß und nehmen Kontakt mit den blutjungen und militanten Nachwuchsnazis im Osten auf. Auch Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos werden, bevor sie abtauchen, einige verurteilte Rechtsterroristen aus dem Westen kennenlernen. Es kursieren zudem früh Papiere in der Szene, von Nazikadern aus dem Westen geschrieben, in denen propagiert wird, eine "mitteldeutsche SA" aufzubauen, zu der Mitglieder gehören sollen, "die schon vor dem 9. November (1989) zum NS-Untergrund gehörten ...". Auch das Konzept eines NS-Untergrunds ist also schon früh in Ostdeutschland ein Begriff.
Lingen und seine Mitarbeiter beginnen unter großem Druck, systematisch in allen Brennpunkten junge, militante Neonazis als Spitzel zu rekrutieren. Dass einige der Spitzelkandidaten in ihren Heimatorten regelrecht gefürchtet werden, wegen versuchtem Totschlag verurteilt wurden, minderjährig sind und weiter zum bewaffneten Kampf aufrufen, interessiert das Amt nicht – Hauptsache, die Spitzel haben das Potenzial, in der Bewegung aufzusteigen, um so möglichst viel Informationen beschaffen zu können. Lingen und seine Männer feiern bald erste Erfolge. Sie werben jeweils einen V-Mann in Thüringen, in Sachsen und in Sachsen-Anhalt an, die dort bereits in der Führung der Szene mitmischen, obwohl sie gerade mal 18 Jahre alt sind. Die neuen Rekruten bekommen die Tarnnamen "Primus", "Tarif" und "Corelli" und gehören bald zu den besten Quellen des Bundesamtes in der militanten Neonazi-Szene. Sie verraten alles und jeden, berichten über Waffenbeschaffung, Terrorpläne und über junge, aufstrebende Neonazis.
Zudem bekommt das Bundesamt aus den Bundesländern Berichte von V-Männern, die den dortigen Landesämtern für Verfassungsschutz Informationen geliefert haben. Über die Jahre waren mindestens zwei Dutzend Spitzel im direkten oder mittelbaren Umfeld des NSU im Einsatz, von denen einige den späteren Rechtsterroristen bei ihrem Leben im Untergrund halfen. Auch die drei Topquellen des Bundesamtes – Corelli, Tarif, Primus – werden dem NSU gefährlich nahekommen.
"Tun Sie das, was ich sage"
Am Dienstag, den 8. November 2011 gegen 13 Uhr betritt eine etwas untersetzte Frau, lange, dunkle, strähnige Haare, übermüdet, zerknittert, geschafft, hervortretende Augen, die Kriminaldirektion in Jena gemeinsam mit einem älteren Mann, einem Anwalt aus Jena. Die beiden gehen zum wachhabenden Polizisten. Der Anwalt legt ein Schreiben vor: "In einer Ermittlungssache gegen Beate Zschäpe zeige ich die Vertretung der Betroffenen an. Diese macht zunächst von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch." Zschäpe wird durchsucht, fotografiert und in eine Zelle gebracht. Nachdem sie nur einen Tag lang offiziell gesucht wurde, hat sie nun aufgegeben und sich in Jena, ihrer alten Heimat, den Sicherheitsbehörden gestellt. Am Abend wird sie der sächsischen Polizei übergeben, die sie zurück nach Zwickau bringt, da sie dort vier Tage zuvor ihre eigene Wohnung in Brand gesetzt haben soll.
Der Leiter des Referats Beschaffung in der Abteilung für Rechtsextremismus, Lothar Lingen, setzt sich um 15.14 Uhr im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz an einen Computer, zwei Stunden nachdem sich Zschäpe gestellt hat. Die ersten Medien berichten schon über das mysteriöse Ende von Böhnhardt und Mundlos. Lingen ist inzwischen Mitte 50 und seit 20 Jahren beim Bundesamt beschäftigt, davon 16 Jahre im Bereich Beschaffung, er ist längst der Experte für die Spitzel in der rechten Szene geworden. Sein Auftrag, so behauptet er später, sei es an diesem Tag gewesen, so schnell wie möglich herauszufinden, ob Beate Zschäpe oder ihre beiden Freunde Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt Quellen des Bundesamtes waren oder als solche geworben werden sollten. Es ist sehr fraglich, ob er als Veteran der Abteilung die Akten hätte sichten müssen, um das in Erfahrung zu bringen.
Lingen recherchiert dennoch in der Datenbank des BfV, sucht nach Akten von V-Personen. Insgesamt 37 Fälle schaut er sich an. Am Abend desselben Tages oder am Morgen des 9. November gibt Lingen drei Mitarbeitern den Auftrag, sieben V-Mann-Fälle und die dazugehörigen Akten zu prüfen. Alle Vorgänge haben mit Thüringen zu tun, fünf davon laufen unter dem Namen "Operation Rennsteig", bei der es um die Werbung von Spitzeln in der rechten Szene Thüringens ging. Lingens angebliche Anweisung: In den Akten sollte nur nach den Namen Mundlos, Zschäpe, Böhnhardt gesucht werden, nicht nach anderen Zusammenhängen.
Sechs Akten werden vernichtet
Tatsächlich hatte einer dieser V-Männer mit dem Deckname "Treppe" schon ab mindestens 1996 direkten Kontakt zu den dreien, sein Bruder soll Beate Zschäpe sogar noch nach deren Abtauchen getroffen haben. Ein weiterer der V-Mann-Fälle, die an diesem Tag in großer Eile überprüft werden, ist der Fall "Tarif" alias Michael See. Er hat mindestens acht Jahre als Quelle aus Thüringen, der Heimat des NSU, Informationen über militante Neonazis geliefert, seine Berichte füllen mehrere Aktenordner. Er hatte Kontakte zu diversen führenden Neonazis, Rechtsterroristen und solchen, die es werden wollten. In einem Geheimdossier des LKA Thüringen wird er als einer der Hauptinspiratoren des Thüringer Heimatschutzes genannt, zu dem Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt gehörten. Er hatte Kontakt in das direkte Umfeld der drei.
Im Laufe des Tages will Lingen E-Mails und Anrufe der Mitarbeiter erhalten haben, die ihm mitgeteilt hätten, dass sie die Akten bereits überflogen und die Namen der drei angeblich nicht gefunden hätten.
Am nächsten Tag spricht ein Mitarbeiter Lingens die Archivarin N. an, die zuständig ist für die V-Mann-Akten. Sie soll die Akten von sechs der geprüften V-Mann-Fälle umgehend vernichten. Sie beschreibt den Dialog später in einer Zeugenaussage so:
Sie fragt: "Was soll hier vernichtet werden?"
Darauf Lingen: "Sechs Akten."
"Sind das denn V-Mann-Akten, oder sind das Werbungsakten?"
"Es sind V-Mann-Akten."
Darauf sagt die Archivarin: "Die werden doch nicht vernichtet. Wieso sollen die vernichtet werden?"
"Tun Sie das, was ich sage."
Die Archivarin N.: "Das werde ich nicht tun, weil [sie sind] ja zu diesemZeitpunkt kein zuständiger Referatsleiter von den V-Mann-Akten." Darauf wieder Lingen: " ja, aber [ich bin] jetzt Vertreter." – "Ja, sage ich dann, in Ordnung; dann [geben Sie] mir das aber bitte schriftlich."
Die Archivarin kann sich nicht wehren
Anschließend gibt ihr Lingen per Mail am 10. November 2011 um 10.25 Uhr die Anweisung zur Vernichtung von sechs V-Männer-Komplexen. Zehn Minuten später folgt eine weitere Mail von Lingen: "Auch die Bestandteile der VM-Akte Tarif müssen vernichtet werden." Schließlich sieht die Archivarin keine Möglichkeit mehr, sich weiter zu wehren. Sie stellt die Daten zusammen, die gelöscht werden sollen. Gemeinsam mit einem Mitarbeiter von Lingen fährt sie am 11. November, einem Freitag, in den Keller des Inlandsgeheimdienstes. Zwischen 10 Uhr und 11 Uhr werden dort die Akten, darunter die zum Fall Tarif und weitere Akten zur Operation Rennsteig vernichtet.
Bei N. ist der Kollege B. aus dem Referat von Lothar Lingen. Er fragt, was man da eigentlich mache. Schon am Tag zuvor hatte er Lingen gefragt, warum man die Akten vernichten müsse, hatte aber keine befriedigende Antwort bekommen. Um 14 Uhr fährt die Archivarin nach Hause. Anderthalb Stunden später ruft Lingen sie an. Ob sie die Akten schon vernichtet habe, unter anderem wolle der Präsident des Amtes, Heinz Fromm, doch noch mal hineinsehen.
"Zu spät", sagt N., "Scheiße" soll Lingen laut N. geantwortet haben. Wenig später schickt Lingen eine Mail an einen Kollegen mit der Bitte, die Akten nicht zu vernichten, als hätte er das Gespräch mit N. zuvor nie geführt, als hätte er sich nicht vergewissert, dass die Akten wirklich weg sind. Am Samstag, nachdem die Akten bereits vernichtet worden sind, erfährt die Öffentlichkeit zum ersten Mal von der Existenz eines Nationalsozialistischen Untergrunds.
Als die Archivarin N. "zwei oder drei Wochen" später zufällig eine weitere Akte über den Fall Tarif findet, geht sie mit den Papieren sofort zu Lingen. Der blättert diese durch und sagt: Auch die müssten vernichtet werden. Ganz offenbar wollte Lingen Akten, die mit Tarif zu tun haben, keinesfalls erhalten, sondern im Gegenteil sie so schnell wie möglich vernichten.
Absoluter Quellenschutz
Im September 2013 spüren die Journalisten Dirk Laabs, einer der beiden Autoren des Buches "Heimatschutz", und Marcus Weller vom MDR den Spitzel "Tarif" in Schweden auf, wo er inzwischen seit mehreren Jahren lebt und den Namen seiner Frau angenommen hat. Die Reporter konfrontieren See mit seiner Zeit in der Neonazi-Szene. Er gibt alles zu, seine Kontakte zu "Combat 18", einer militanten Untergrundgruppe. Dass er ein V-Mann des BfV war, leugnet er jedoch.
Monate später ist dann alles anders, als er mit dem "Spiegel" redet, nachdem er offenbar vom Bundesamt präpariert wurde. Ja, er sei der V-Mann Tarif. Ja, er habe Angst, er schlafe mit dem Knüppel neben dem Bett. Ja, er habe mit einem der engsten Unterstützer von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe darüber gesprochen, das Trio zu verstecken, er habe das auch dem Bundesamt gemeldet. Seine V-Mann-Führer wollten aber nicht, dass er das tut.
Hat sich das Bundesamt wirklich die Chance entgehen lassen, drei gesuchten Neonazis eine Falle zu stellen? Das würde kaum zu Lothar Lingen und seiner Arbeitsweise passen. Lingen hatte vor dem NSU-Ausschuss betont, dass man auch die Szene "operativ" bearbeitet, also nicht nur passiv Informationen gesammelt hat. Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt waren dem Amt jedenfalls spätestens seit 1995 ein Begriff, eine der Topquellen, "Corelli", hatte unter anderem früh über ein Treffen mit Mundlos berichtet.
Ab Januar 1998, als die drei sich absetzten, weil man in Jena eine Garage gefunden hatte, in der sie Rohrbomben gebaut haben sollen, war die Abteilung "Rechtsterrorismus" für das Trio zuständig. Auch die Gefahr, die von den dreinen ausging, schätzte man also beim BfV richtig ein. Man hatte die Namen, man hatte V-Männer in der Umgebung des Trios platziert. Das BfV wollte im Jahre 2000 sogar eine neue Definition für Terrorismus einführen, da es fürchtete, dass Attentate in Zukunft von sehr kleinen Gruppen ausgehen könnten. Doch all diese Informationen wurden angeblich nicht zusammengesetzt, sodass der NSU ungestört morden konnte.
Aussageverweigerung in allen wesentlichen Punkten
Michael See selbst behauptete gegenüber einem Reporter noch, er habe schon 1994 aussteigen wollen, das Bundesamt habe ihn aber gezwungen, als V-Mann in der Szene zu bleiben.
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(Zu diesem Satz hat der Axel-Springer-Verlag am 7. August 2014 eine Erklärung zur Unterlassung der weiteren Behauptung oder Verbreitung abgegeben. Herr von Dolsperg (früher See) hat mich am 26.1.2016 per Mail aufgefordert, den Satz mit der darin enthaltenden Behauptung zu entfernen, da sie unwahr sei. Ich habe diesen Satz deshalb von meiner Homepage genommen.)
Und einen Platz für Camper hat See in Schweden auch. Lügen gehört zum Geschäft der V-Männer und ihrer beamteten Führer.
Die Akten dieses Mannes, der erst nach seiner Enttarnung gegenüber der Presse und nicht der Polizei zugibt, dass man ihn gefragt habe, ob er die drei Mitglieder des NSU unterbringen könne, wurden also auf Anweisung von Lothar Lingen vernichtet. Zu allen wesentlichen Punkten verweigerte Lingen die Aussage: Hat er Tarif selbst geführt? Wer im Amt wusste wann von der Vernichtung der Akten? Vor allem: Warum hat er überhaupt die Akten vernichten lassen? Juristisch gesehen konnte er das, lief doch zur selben Zeit ein dienstliches Ermittlungsverfahren wegen der Aktenschredderung gegen ihn.
Der damalige Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages, Sebastian Edathy, und ein weiterer Abgeordneter vernahmen die Zeugin, die genötigt wurde, die Akten von Tarif zu vernichten. Im April 2013 besucht er sie in Köln und durfte sie in Anwesenheit ihrer Chefin vernehmen. Erst im August, als die Presse vor allem vom NSU-Prozess in München berichtete und die erste Berichte über die Aktenvernichtungen bereits in Vergessenheit geraten waren, verlas Edathy mit wutbebender Stimme die Aussage dieser Zeugin in NSU-Ausschuss, immer wieder blickte er verärgert zu Vertretern des Bundesinnenministeriums. Nur Tage später spielte Edathy den Fall in einem Interview jedoch herunter und stellte fest, die Aktenvernichtungen, seien eher "ausgesprochene Dummheit" gewesen als Vertuschung. Eine merkwürdige Bewertung.
"Operation Rennsteig"
Ein weiteres Problem war: Die Abgeordneten durften den Vernichtungsvorgang nicht unabhängig und selbstständig untersuchen, das übernahm ein Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums, der selber lange Spitzenbeamter im BfV war.
Der fand dann heraus: Nach der Vernichtung der Akten von Tarif ging die Vernichtung der Dokumente erst richtig los. In den folgenden sieben Monaten wurden bis in den Juni 2012 hinein – lange nachdem die Bundeskanzlerin den Hinterbliebenen der Mordopfer ihr absolutes Versprechen gegeben hatte, alles für die Aufklärung der Mordserie zu tun – Hunderte von Akten im Bundesamt geschreddert.
Die Vernichtung wurde erst gestoppt, als Abgeordnete in Erfurt nach einer "Operation Rennsteig" fragten und die Schredderungen aufzufliegen drohten. Lingen gestand plötzlich die Vernichtung der Akten ein. Die letzte Akte vernichtete man offiziell am 4. Juli 2012. Bis dahin hat man allein im Bundesamt für Verfassungsschutz 310 Akten geschreddert, mithin Tausende von Dokumenten zerstört. Der Präsident des Bundesamtes, Heinz Fromm, will erst zu diesem Zeitpunkt von der Vernichtung erfahren haben und trat kurz darauf nach zwölf Jahren im Amt zurück.
Im Untersuchungsausschuss des Bundestages wird Fromm wenige Tage nach seinem Rücktritt gefragt, ob das Vertrauen in den Inlandsgeheimdienst wieder hergestellt werden könne. Er antwortet: "Das wird sehr schwer, wenn man das realistisch betrachtet. Wir haben ja auch Lasten aus der Vergangenheit, und wir können die nur schwer kompensieren. Anders als für andere Behörden ist es schwer, Erfolge öffentlich zu demonstrieren. ... es ist [also] schwer, das [Vertrauen] wiederherzustellen, wenn es überhaupt geht."
Fromm selbst hatte jedoch noch im Amt entschieden, dass eine andere Topquelle, die Lingens Abteilung einst geworben hatte, auch gegenüber dem BKA weiter abgeschirmt werden müsse. Nach dem 4. November 2011 hatte eine interne BfV-Prüfgruppe zwar der Amtsleitung empfohlen, das Bundeskriminalamt über einen der wichtigsten V-Männer zu informieren: Thomas Richter alias Corelli. Doch Heinz Fromm und sein Vizepräsident Alexander Eisvogel lehnten es ab, das BKA zu informieren. Corelli wurde sogar instruiert, dem Beamten des Bundeskriminalamts bei einem anstehenden Verhör überhaupt nicht zu sagen, dass er ein V-Mann war. Corelli hielt sich daran und log für das BfV die BKA-Ermittler an.
Kontakte zum Ku-Klux-Klan
Die Telefonnummer von Corelli stand auf einer Namensliste, die 1998 nach dem Abtauchen der drei in der Garage in Jena gefunden wurde. Der Verfassungsschutzagent hatte zudem Kontakte zum Ku-Klux-Klan, bei dem zwei Polizisten Mitglied waren. Einer der beiden KKK-Polizisten war am Todestag der Polizistin Kiesewetter deren Zugführer. Wenige Minuten nach der ersten Meldung über die Ermordung seiner Kollegin stand er neben der Leiche am Tatort. Alles nur Zufall?
Anfang 2014 kam heraus, dass Corelli eine CD-ROM produziert hatte, eine wilde Sammlung von Fotos, Filmen und Comics, die Polizisten, den politischen Gegner, germanische Götter und Skinheads zeigt. Die CD trägt ausgerechnet den Titel "NSU/NSDAP" – NSU für "Nationalsozialistischer Untergrund". Auf dem Cover ist zudem das Bild einer Pistole abgebildet. Warum, kann Corelli nicht mehr erklären. Er wurde im April tot in seiner Wohnung aufgefunden, gerade als ihn Agenten des BfV besuchen wollten. Er war aufgrund einer zuvor nicht diagnostizierten Zuckerkrankheit in ein tödliches diabetisches Koma gefallen, ergab die Obduktion.
Die zuständigen Gremien des Bundestages versuchen aktuell, dem Bundesamt und Bundesinnenministerium Informationen in Sachen Corelli zu entlocken, doch das blockt bei wesentlichen Fragen ab. Damit wollen sich die Mitglieder des für die Kontrolle der Geheimdienste zuständigen parlamentarischen Ausschusses nicht mehr zufriedengeben und forderten in der vergangenen Woche alle Akten über die V-Männer Tarif und Corelli an. Doch auch der Kontrollausschuss der Bundestages kann nur Akten sichten, die noch vorhanden sind.
"Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden"
Auch wo es um die anderen V-Leute ging, mauerte das Bundesamt gegenüber Bundestag und BKA, obwohl sie zentral für die Ermittlungen sein könnten, um das Umfeld des NSU aufzuklären. Vor allem kooperierte das Bundesamt nicht mit den Mordermittlern des BKA. Das BfV blockiert den Aufklärungsprozess noch immer, wo es nur kann. Warum, erklärte der langjährige Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Klaus-Dieter Fritsche, vor dem NSU-Ausschuss bei einem Auftritt so: "Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren. Es darf auch nicht so weit kommen, dass jeder Verfassungsfeind und Straftäter am Ende genau weiß, wie Sicherheitsbehörden operativ arbeiten und welche V-Leute und verdeckten Ermittler im Auftrag des Staates eingesetzt sind."
Inzwischen ist Klaus-Dieter Fritsche im Rang eines Staatssekretärs Koordinator der Geheimdienste – im Kanzleramt von Angela Merkel, die den Angehörigen der Mordopfer volle Aufklärung versprochen hatte. Und die zentrale Frage bleibt über zwei Jahre nach dem Auffliegen des NSU, nach der Arbeit von vier Untersuchungsausschüssen und mehr als 100 Prozesstagen in München: Welches Staatsgeheimnis meinte Fritsche damals? Und warum ist er jetzt Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt, obwohl der die Aufklärung behindert hat? War das Versprechen von Angela Merkel, das sie gegenüber den Hinterbliebenen gegeben hat, nichts wert?
Die hier veröffentlichte Geschichte von Stefan Aust und Dirk Laabs basiert auf Recherchen zu ihrem Buch: "Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie der NSU". Pantheon Verlag, 22,99 Euro