Sächsische Zeitung, 22.10.2014
Bildungspolitik: Gute Lehrer braucht das Land - Die neue Landesregierung muss Sachsens Zukunft sichern
Die neue Landesregierung muss Sachsens Zukunft sichern. SZ-Redakteure analysieren die wichtigsten Herausforderungen. Heute: Bildungspolitik.
Die Bildungspolitik liegt in den Händen des Kultusministers. So weit die Theorie. Eltern, Schüler und Lehrer haben inzwischen aber die Erfahrung gemacht, dass die Schule immer stärker zu einer Domäne des Finanzministers geworden ist. Der Kassenwart hat bei allen wichtigen Entscheidungen das letzte Wort. Das ist umso trauriger, als der politische Gestaltungsspielraum der Bundesländer ohnehin stark geschrumpft ist. Viele Kompetenzen sind nach Brüssel gewandert, und zur Umsetzung eigener Ideen fehlt den Ländern meistens das Geld. Ein Blick auf eine x-beliebige Tagesordnung einer Landtagssitzung in Dresden belegt die schwindende politische Relevanz der sächsischen Landespolitik. Kleines Karo statt großer Entwürfe.
Die Bildungspolitik ist eines der letzten großen Themen, die den Landesparlamenten und -regierungen Einfluss und Bedeutung verschafft. Sie fällt in die alleinige Zuständigkeit der Bundesländer. Nur hier darf jedes Land im Wettbewerb mit anderen zeigen, was es kann. Bildung ist zudem das wichtigste Zukunftsthema, sie betrifft jeden. Sie bestimmt über die individuelle Zukunft von Kindern und Jugendlichen und über die materielle Basis der Gesellschaft. Eine Aufgabe, für die die politischen Parteien ihre besten Männer und Frauen auswählen – sollte man meinen.
In der Praxis dominiert jedoch die Mangelverwaltung. Zwar ist die Zeit der ideologischen Grabenkämpfe um Gesamtschule und Gymnasium längst vorbei. Doch der Streit um Schule kann immer noch Wahlen entscheiden und Bürger massenhaft auf die Straße treiben, wie das Hamburger Beispiel zeigt. Dort haben Eltern vor wenigen Jahren die Einführung einer sechsjährigen Primarschule per Volksbegehren zu Fall gebracht. Die schwarz-grüne Koalition hat sich von dieser Niederlage nie mehr richtig erholt.
Trotz der immensen Bedeutung von Schule und Bildung ist die bisherige Kultusministerin auch in Sachsen nicht gerade das, was man ein politisches Schwergewicht nennt. Ihr Vormund hieß Georg Unland. Ob und wie viele Lehrer in Sachsen eingestellt werden, entschied letzten Endes der Finanzminister, und nicht die Kultusministerin. Die politische Seiteneinsteigerin Brunhild Kurth (CDU) durfte der absehbaren Personalnot in den Schulen nicht einmal ein langfristiges Stellenkonzept entgegensetzen, ohne ihren Rauswurf aus dem Kabinett zu riskieren. Und sie hat gehorcht, um nicht das gleiche Schicksal zu erleiden wie ihr Vorgänger.
Nichts gegen Sparsamkeit. Der Staat kann und darf nicht auf Dauer mehr Geld ausgeben, als er einnimmt. Davon ist die Bildungspolitik nicht ausgenommen. Die Hoffnung mancher Gewerkschafter, man müsse nur möglichst viel Geld in den Bildungssektor stecken, um möglichst gute Ergebnisse zu erzielen, geht in die Irre. Dennoch kann es nicht sein, dass allein der Finanzminister die Richtlinien der Politik diktiert, während der Ministerpräsident fünf Jahre lang so tut, als ginge ihn dieses Zukunftsthema nichts an. Die Bildung muss im neuen Kabinett ein Schwerpunktthema der gesamten Regierung werden, und zwar in politischer wie finanzieller Hinsicht. Ob CDU oder SPD die Verantwortung für das Bildungsressort bekommen: Er oder sie sollte sich durchsetzen können. Ein Minister, der Probleme nur verwalten darf, nützt niemandem.
Ein Beispiel ist der drohende Lehrermangel. Dass in Sachsen in den nächsten Jahren 70 Prozent des Lehrpersonals in die Altersrente geht, ist nicht erst seit gestern bekannt. Hätte die alte CDU/FDP-Regierung das Problem nicht totgeschwiegen, könnten schon jetzt Konzepte auf dem Tisch liegen. Vielfach wurden Referendare mit guten Noten und gefragter Fächerkombination weggeschickt. Studentinnen und Studenten reagieren angesichts der frustrierenden Erfahrungen älterer Jahrgänge nach gescheiterten Bewerbungen skeptisch auf die hektischen Anwerbeversuche, die das Ministerium jetzt unternimmt.
Bis zu 7.000 Lehrer gehen in den nächsten fünf Jahren in Rente. Schon in diesem Schuljahr scheiden 640 Pädagogen aus, im nächsten sind es 730. 2016/17 erreichen 880 die Altersgrenze, 2017/18 sind es weitere 1..220. In den darauffolgenden Jahren werden pro Schuljahr rund 1.600 Lehrer in den Ruhestand gehen. Zugleich steigen die Schülerzahlen in diesem Zeitraum leicht an. Hinzu kommt ein höherer Förderbedarf durch die Inklusion.
Erforderlich ist nun eine Art Kassensturz im Lehrerzimmer. Wie viele neue Lehrer benötigt Sachsen in den nächsten fünf Jahren? In welchen Regionen werden sie gebraucht? Welche Qualifikation müssen sie mitbringen? Diese Fragen müssen in einer mittelfristigen Lehrerbedarfsplanung beantwortet werden. Sich von Schuljahr zu Schuljahr zu hangeln, ist riskant, denn auch andere Bundesländer suchen händeringend Pädagogen. Ausgerechnet der Landesrechnungshof, der Schule naturgemäß in erster Linie als Kostenfaktor betrachtet, hat vor wenigen Tagen eine solche Planung angemahnt. Wenn es nicht gelingt, mehr junge Menschen für den Lehrerberuf zu interessieren, droht Unterversorgung, warnt auch die Kultusministerkonferenz. Die Folgen: übervolle Klassen und womöglich kompletter Verzicht auf Unterricht in Mangelfächern.
Trotz des sich abzeichnenden Bedarfs an jungen Lehrern wird nicht jeder Bewerber eine Stelle im sächsischen Schuldienst bekommen. So ehrlich sollte das Kultusministerium sein, wenn an Universitäten für den Lehrerberuf geworben wird. Zwar interessieren sich Abiturienten wieder für den Schuldienst. Sie wollen überwiegend Gymnasiallehrer werden, aber Berufs- und Förderschulen sind und bleiben unattraktiv. An diesen beiden Schulformen fallen seit vielen Jahren die meisten Unterrichtsstunden aus. Es ist bemerkenswert, dass sich kaum jemand darüber aufregt. Dort, wo sich Eltern nicht beschweren oder engagieren, ändert sich offenbar nichts. CDU und SPD müssen trotzdem handeln.
Insbesondere für Berufsschulen bieten sich qualifizierte Quereinsteiger-Programme an. Die duale Ausbildung ist eine Erfolgsgeschichte und wird von anderen Staaten kopiert. Das System von praktischer Ausbildung im Betrieb und Wissensvermittlung in der Berufsschule gilt in der EU als Erfolgsrezept gegen Jugendarbeitslosigkeit. Experten gehen davon aus, dass sich die Universitäten noch stärker öffnen müssen für Berufstätige ohne Abitur. Sie empfehlen intensivere Verbindungen zwischen beruflicher Lehre und akademischer Hochschulbildung.
Ein weiteres Problem auf dem Arbeitsmarkt für Lehrer: Viele Bewerber in Sachsen bringen nicht die richtige Fächerkombination mit. Die meisten Sorgen bereitet aber das Stadt-Land-Gefälle. Schon jetzt fühlen sich Eltern in ländlichen Regionen zu Recht benachteiligt. Die Schulschließungen haben ihre Wege verlängert, das kostet Geld und Zeit. Und nun müssen sie fürchten, auch beim Generationenwechsel im Lehrerzimmer abgehängt zu werden.
Eine glaubwürdige Werbekampagne kann sicher dazu beitragen, Bewerber aus dem Westen der Republik nach Dresden, Leipzig oder Chemnitz zu locken. In anderen Bundesländern ist der Arbeitsmarkt für Pädagogen gesättigt, die Aussichten auf eine Stelle eher gering. Aber für den ländlichen Raum in Sachsen muss sich die künftige Regierung etwas mehr einfallen lassen. Wer Studenten heute fragt, ob sie bereit wären, in Niesky oder Weißwasser zu leben und zu arbeiten, erntet mancherorts höhnisches Gelächter. Diese Haltung ändert sich womöglich, wenn die Mietpreise in den sächsischen Großstädten weiter steigen. Dennoch müssen Regierung und Kommunen über finanzielle Anreize oder individuelle Verträge mit verbindlichen Job-Zusagen nachdenken. Auf der Suche nach Hausärzten haben sich Kommunen einiges einfallen lassen, zum Beispiel Hilfe bei der Wohnungssuche oder bei der Arbeitsplatzvermittlung für den Ehepartner. Ähnliche Ideen muss es auch für die Lehrer geben, mit finanzieller Unterstützung des Landes.
Definitiv keine Lösung des Personalproblems ist die Verbeamtung von Lehrern. Der Beamtenbund meint, nur so lasse sich Nachwuchs gewinnen. Eine durchsichtige Forderung. Tatsächlich geht es ihm wohl in erster Linie um seine eigenen Interessen. Die künftige Landesregierung darf sich darauf nicht einlassen, mag die Verlockung zurzeit noch so groß sein. Lehrer üben keine hoheitlichen Befugnisse aus, ein besonderes Dienst- und Treueverhältnis zum Staat gibt es nicht. Das Gewaltmonopol der Polizei ist – jedenfalls in der Regel – nicht vergleichbar mit der Zeugnisvergabe durch den Lehrer.
Kurzfristig lassen sich im Konkurrenzkampf mit anderen Bundesländern Geländegewinne erzielen. Der Beamtenstatus verschafft Sicherheit und gewährt Privilegien. Die finanziellen Folgen werden nachfolgenden Generationen aufgebürdet. Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und andere Länder werden, wenn eines Tages ihre verbeamteten Lehrer zu Tausenden in Pension gehen, ihre Entscheidung bitter bereuen.
Bildungsforscher werfen dem sächsischen Schulsystem seit Jahren immer wieder die gleichen Mängel vor. Die hohe Quote an Schulabbrechern gehört dazu. Die Regierung hat hier auch auf Druck der sächsischen Wirtschaft einige Fortschritte erzielt. Die schwarz-rote Koalition muss Haupt- und Förderschüler weiter fördern. Eine weitere Baustelle ist die fehlende Durchlässigkeit. Wer auf dem Gymnasium scheitert, wird hemmungslos nach unten durchgereicht. Aber Spätzünder, die nach der 4. Klasse von der Oberschule auf das Gymnasium wechseln wollen, haben Pech. Ein Wechsel ist wegen der zweiten Fremdsprache an den Gymnasien in höheren Klassen praktisch so gut wie unmöglich. Der Bildungsaufstieg findet allen Sonntagsreden der CDU zum Trotz nicht statt.
In einer 2011 veröffentlichten Studie der Bertelsmann-Stiftung heißt es, Sachsen habe im Osten das ungünstigste Verhältnis zwischen Schulauf- und -abstiegen. Selbst nach einem erfolgreichen Abschluss der Oberschule finden nur sehr wenige Schüler den Weg zur gymnasialen Oberstufe, kritisieren die Forscher. Auf einen Aufsteiger kommen im Durchschnitt 4,7 Schulabsteiger. Unter dem Strich verlieren der Bertelsmann-Stiftung zufolge die sächsischen Gymnasien innerhalb der Sekundarstufe I zehn Prozent ihrer Schülerschaft.
Mögen sich die konkreten Zahlen seitdem auch verändert haben: Diese starren Strukturen sind ungerecht gegenüber dem einzelnen Schüler, dem Bildungswege versperrt werden. Sie widersprechen zugleich den Kriterien eines Bildungssystems, dass auf Leistung basiert. CDU und SPD müssen deshalb die Durchlässigkeit für aufstiegswillige Schüler verbessern. Wer behauptet, diese Aufgabe sei wegen der unterschiedlichen Lehrpläne unlösbar, möge sich an die Debatte um die Inklusion erinnern. Der gemeinsame Unterricht für behinderte und nichtbehinderte Kinder stellt die Verantwortlichen ebenfalls vor enorme Herausforderungen und wird dennoch in absehbarer Zeit Alltag in den Schulen werden.
Die CDU ignoriert seit Jahren – aus Bequemlichkeit oder Unkenntnis – die mangelnde Flexibilität des Schulsystems. Die SPD hat das Schlagwort vom „längeren gemeinsamen Lernen“ in die Welt gesetzt. Dahinter steckt die Forderung nach Einführung der Gemeinschaftsschule. Im Wahlkampf hat sie den Begriff ganz bewusst nicht offensiv verwendet. Denn auch die reformfreudigsten SPD-Bildungspolitiker wissen, dass sie den Schulfrieden besser nicht stören. Die meisten Eltern wollen keine Schulexperimente. Langfristig angelegte Modellversuche sollten allerdings dort möglich sein, wo alle Eltern dies ausdrücklich wünschen.
Ein modernes zukunftsfähiges Bildungssystem hängt aber nicht von der Erfindung neuer Schulstrukturen ab. Sachsens Schüler haben in den vergangenen Jahren bei nationalen Bildungsvergleichen gute Noten erhalten. Es gibt daher keinen Grund, das System grundlegend zu verändern. Aber es benötigt neuen Schwung und frische Ressourcen, um in Zukunft bestehen zu können.
Von Karin Schlottmann
Wohin geht Sachsen? Ein Wegweiser
• Die künftige Kultusministerin oder der künftige Kultusminister darf nicht länger unter der Fuchtel des Finanzminjsters stehen. Eines der zentralen Politikbereiche der neuen Landesregierung gehört in die Hand einer durchsetzungsstarken Persönlichkeit
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• Eine Art Kassensturz im Lehrerzimmer ist jetzt fällig. Die Regierung muss ein langfristiges Lehrerbedarfskonzept präsentieren. Sich von Schuljahr zu Schuljahr zu hangeln, funktioniert nicht mehr. Die Verbeamtung von Lehrern ist falsch.
• Die Schulstrukturen stimmen, aber das System muss Aufstiege ermöglichen. Wechsel von der Oberschule zum Gymnasium dürfen entsprechend dem Leistungsgedanken nicht mehr die Ausnahme bleiben.