Süddeutsche Zeitung, 06.12.2014
Ramelow erster linker Ministerpräsident - Der richtige Mann am richtigen Ort
Eine Landesregierung unter Führung der Linken ist ein wichtiges Experiment - und Bodo Ramelow genau der richtige Mann dafür. Auch wenn es mit ihm anstrengend werden kann.
Kommentar von Cornelius Pollmer
Gilt eigentlich dieser alte Sonntagssatz noch, Demokratie ist anstrengend? Er gilt in ihren flirrenden Momenten, wenn Gesellschaften zäh zu Positionen finden, die eine Mehrheit von ihnen vertreten kann. Er gilt gewiss auch für Thüringen, wo es Menschen gibt, die aus biografischen und anderen persönlichen Gründen eine nun Realität gewordene Vorstellung nicht ertragen können: ein Linker als Oberster unseres Landes, ausgerechnet?
Die allermeiste Zeit und für die allermeisten Menschen aber ist Demokratie überhaupt nicht anstrengend. Weder zwingt sie einen, sich mit den Vorgängen in Parlamenten zu beschäftigen, noch dazu, deren Zusammensetzung auch nur mitzubestimmen. Demokratie zwingt nicht zur Teilhabe, sie ist ein Angebot, sich zu beteiligen. Das Ergebnis ist, im Idealfall, eine Art antiautoritäre Erziehung. Oder, im ungünstigen Fall: Desinteresse.
Hoffentlich wird die neue Regierung anstrengend
Von der neuen Regierung unter Bodo Ramelow kann man sich deswegen nur wünschen, dass sie sich als anstrengend im besten Sinne erweist, als anstrengend für die Beteiligten selbst, aber auch für das Land, dem diese Beteiligten nun vorstehen. Der Ministerpräsident hat in seiner ersten Rede nicht weniger als genau das versprochen. Er richtete sich zunächst an jene, die Politik eine Veränderungskraft nur noch da zutrauen, wo es um die Erhöhung von Diäten oder Steuern geht, und die mit ihr abgeschlossen haben wie mit einer verblichenen Liebe, von der man einmal zu oft enttäuscht worden ist.
Nur etwas mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten waren im September in Thüringen zu Wählern geworden. Ramelow sagt, er wolle, dass auch die andere Hälfte sich wieder einmischt in die Demokratie, die ja auch ihre Demokratie ist, zäh errungen, vor 25 Jahren.
Er richtete sich, zweitens, an all jene, die unter einem Staat gelitten haben, aus dessen Insolvenzmasse die heutige Linkspartei hervorgegangen ist.Ramelow bat die Opfer der DDR retrospektiv um Entschuldigung und in die Zukunft blickend um Dialog. Versöhnen statt spalten, dafür steht Ramelow nachgewiesenerweise als Person; seine Partei ist diesen Nachweis bislang schuldig geblieben.
Regierungsübernahme von Rot-Rot-Grün ist ein Signal
Eine Rückholaktion für die Desinteressierten und eine Versöhnung der bislang Unversöhnlichen. Das sind zwei im Grunde unlösbare Aufgaben, aber: Welche schöneren könnte es geben?
Zum Desinteresse. Landespolitik leidet in besonderem Maße unter der Ökonomie der Aufmerksamkeit und deren Globalisierung. Politisches Interesse wird gebunden von den Konflikten und Kriegen in der Welt, und was von ihm doch im Lande bleibt, das geht in den föderalen Dreikampf: Landespolitik aber ist oft nicht so wohlstands- und damit lebenswirksam wie die des Bundes, und sie scheint in ihrer Wirkung selten so unmittelbar wie jene auf kommunaler Ebene zu sein.
In Thüringen folgte die Politik zudem lange Zeit einer eisernen Regel, die nicht gerade zur Mitwirkung ermunterte: Eine Legislaturperiode dauert fünf Jahre, und am Ende gewinnt die CDU. Die Regierungsübernahme durch Rot-Rot-Grün ist ein kräftiges Signal an die, die glaubten, Veränderung sei gar nicht möglich. Bleibt diese Veränderung nur ein formaler Akt, ein nicht eingelöstes Versprechen, dann wird sie bestenfalls verpuffen oder, wahrscheinlicher noch, das Desinteresse weiter stärken.
Gerade weil die Kompetenzen von Landespolitik beschränkt sind, besteht die große Chance von Ramelow und Rot-Rot-Grün in dem eher ideellen Versuch von Aufarbeitung, Dialog und Versöhnung. Thüringen ist dafür der richtige Ort, das Jahr 2014 die richtige Zeit, und Ramelow - mit Abstrichen - der richtige Mann.
Der richtige Ort ist Thüringen, weil es als Testbett genau die richtigen Maße hat für das Experiment einer linksgeführten Landesregierung: Diese kann sich bewähren, sie kann scheitern - irreparablen Schaden wird sie kaum anrichten können. Thüringen ist auch deswegen der richtige Ort, weil das Land mit dem hier keimenden NSU noch in jüngster Vergangenheit erlebt hat, was passieren kann, wenn Menschen nicht mehr innerhalb des Rechtsstaates für ihre Ziele eintreten. Wer die Verfassung achtet und gewählt wird, der muss Verantwortung übernehmen dürfen. Wer der Thüringer Linkspartei unter den genannten Bedingungen diese Möglichkeit abspricht, der schätzt die Demokratie gering und auch ihre Wehrhaftigkeit.
Es ist nun auch die richtige Zeit für diesen Versuch. Die Vorbehalte gegenüber der Linkspartei und einigen ihrer Mandatsträger reichen zurück in eine Vergangenheit, die jung genug ist, um die angekündigte Aufarbeitung mahnend zu begleiten und sicherzustellen, dass sich Rot-Rot-Grün der Sache nicht mit ein paar zusätzlichen Gedenktafeln entledigt. Andererseits liegt die DDR und das in ihr geschehene Unrecht so weit zurück, dass man das Angebot Ramelows zum Dialog kaum als Hohn oder Ablasshandel missverstehen kann.
Ramelow kann versöhnen, statt spalten
Bodo Ramelow ist, drittens, der richtige Mann für diesen Versuch. Seit 24 Jahren bewegt er sich in der Zivilgesellschaft Thüringens und auch an deren Rändern, schon als Oppositionsführer war er staatstragender als manch anderer Regierungschef.
In seiner Rede am Freitag hat er zudem einen Punkt adressiert, der notwendig ist für das Gelingen beider Herausforderungen, also Desinteresse und Versöhnung. Ramelow sagte, die Art und Weise der Auseinandersetzung im Parlament entscheide auch über die politische Kultur im Land. Die Abwendung von Politik und der zuweilen schematische Diskurs über Vergangenheit erklären sich zu einem beträchtlichen Teil auch aus dem ritualingetränkten Gegen- und Miteinander in der Politik. Das beginnt bei müder Rhetorik, und es hört noch nicht auf bei dem verbalen Gift, das Lageristen von links und rechts aufeinander versprühen.
Es ist mit keiner Silbe gesagt, dass Rot-Rot-Grün diese Herausforderungen bewältigen wird - das Gegenteil muss als wahrscheinlicher angenommen werden. Das aber entwertet den Versuch nicht, er bleibt reizvoll. Ob sich die Anstrengung lohnen wird, fürs Bundesland und für dessen Ansehen? Diese Frage wäre ein erster, guter Grund für alle Nichtwähler, sich wieder mehr für Politik zu interessieren.