Karl Nolle, MdL

DIE ZEIT, 04.12.2014

Thüringen: Roter Bodo, schwarzes Land

 
Wie Bodo Ramelow, ein ehemaliger Gewerkschafter mit Legasthenie, zum Ministerpräsidenten von Thüringen aufsteigt von Christoph Dieckmann

Unvergesslich blieb die erste Begegnung. Bischofferode im Eichsfeld, Silvester 1993. Nach monatelangem Hungerstreik haben die Kalikumpel des Thomas-Müntzer-Schachts den Kampf um ihre Grube verloren. Das rentable Unternehmen stirbt als Opfer der Treuhandpolitik. In Selbstmord-Stimmung unterschreiben die Bergarbeiter Abfindungsverträge, die ein Gewerkschaftsschlichter ausgehandelt hat. Bodo Ramelow heißt er, parteilos, ein burschikoser Hesse. Seine Schlichtung nennt er einen kleinen Sieg der Kumpel. In der Neujahrsnacht bricht er vor Erschöpfung zusammen.

21 Jahre später will Ramelow Thüringen regieren, als erster Ministerpräsident der Linken. Bereits 2009 erstrebte er ein Bündnis mit der SPD und den Grünen. Doch die Koalitionsgespräche scheiterten damals desaströs, obwohl Spitzenkandidat Ramelow sogar auf das Regierungsamt verzichten wollte. Die Sozialdemokraten verdingten sich lieber bei jener Partei, die seit 1990 die Erfurter Staatskanzlei wie ihren Erbhof führt. Während die SPD als Magd der CDU verhärmte, glänzte Ramelow als Oppositionsrepräsentant. Geduld und staatsmännisches Gebaren übte er so demonstrativ, dass es irgendwann hieß, der Bodo müsse gar nicht Ministerpräsident werden, habituell sei er es schon.

Wird er es nun wirklich? Im Spätherbst 2014 kommen wir nach Erfurt und fragen auf dem Domplatz nach der Thüringer Wechselstimmung. Sie scheint unbekannt, im Unterschied zu Ramelow.

Wenn der ans Ruder kommt, streiten wir uns mit Meck-Pomm um die rote Laterne, sagt der Student.

Der is nich von hier, bellt der Hundehalter. Der soll sich heime machen nach drüben, da kann er links sein, wie er will.

Der Schüler Ramelow erlitt ein Trauma: unerkannte Legasthenie

Rühmliches hören wir auch. Sehr tüchtig sei der Herr Ramelow, sehr engagiert. Ein gestandener Protestant, sozial, auch in Flüchtlingsfragen. Intelligent, allerdings wie Gysi: besser als seine Partei. Er kommt ja nicht aus der SED, da soll er doch mal zeigen dürfen, was er kann.

In Thüringer Schicksalsstunden hören wir die Stimme von Altprobst Heino Falcke. Seit Jahrzehnten sinnt, schreibt, predigt dieser Mose der ostdeutschen Protestanten über Kirche und Gesellschaft, Frieden und Gerechtigkeit. 2009 wiegte Falcke ob der Ministerpräsidentin Lieberknecht skeptisch sein Haupt. Nun besuchen wir den Weisen abermals zum Tee mit Schuss und finden ihn recht heiter. Das Thüringer Wahlergebnis sei gar nicht dumm. Jedes autoritäre Regieren werde in dieser Koalition unmöglich. Er finde es übel, wie die CDU das Erinnern an den Mauerfall gegen Ramelow instrumentalisiere. Man müsse froh sein, dass die Verlierer der deutschen Einheit eine parlamentarische Heimat hätten und ein vernünftiger Mann an ihrer Spitze stehe. Freilich habe auch er, Falcke, schon öffentlich gesagt: Lieber Herr Ramelow, ich vertraue Ihnen ja, aber Sie sind in der falschen Partei.

Und was hat er geantwortet?

Nennen Sie mir die richtige.

Was trauen Sie ihm zu?

Fachkompetenz. Er hat sich in die verschiedensten Bereiche erstaunlich eingearbeitet, immer mit Bodenhaftung. Ich zweifle etwas, ob er in Konfliktsituationen die menschliche Weisheit zum Ausgleich aufbringt.

Sein Blutdruck steigt schnell.

So ist es.

Ich bin tief entspannt – das wird Bodo Ramelow gleich mehrfach verkünden, wenn wir ihn nun im Thüringer Landtag besuchen. Vor Ramelows Büro wacht, hüfthoch, ein roter Karl Marx des Gartenzwerg-Grossisten Ottmar Hörl. Drinnen hängt die schwarz-gelbe Fahne: Bischofferode ist überall! Auf dem Regal stehen Judaica neben einem Foto, das Ramelow in Audienz bei Papst Ratzinger zeigt. Mit Schwung erzählt der Kandidat, wie er wurde, was er ist.

In Niedersachsen geboren, 1956, als jüngstes von vier Geschwistern. Konservatives evangelisches Milieu, politik- und parteifern. Der Vater Lebensmittelkaufmann, ein Ackerer und Strampler, dessen Tante-Emma-Ideal die neuen Supermärkte erdrückten. Der Krieg hatte den frohsinnigen Mann mit Gelbsucht entlassen. Er starb 1967, an Leberzirrhose. Als es zu Ende ging, war der 11-jährige Bodo mit dem Vater allein im Haus. Fortan regierte die Mutter. Ein Kraftbolzen ohne Ende, sagt Ramelow. Tagsüber versorgte sie die Familie, nachts ging sie ins Bahnhofshotel, als Spülhilfe, ohne Rentenversicherung. Ernährt hat uns der Garten.

Der Schüler Ramelow erlitt ein Trauma: unerkannte Legasthenie. Eine Niederlage nach der anderen, sagt Ramelow. Ich wusste nicht, was ich falsch machte. Warum Lesen eins und Diktat sechs? Die Lehrer meldeten meiner Mutter: Er ist hochintelligent, aber stinkend faul. Sie war völlig überfordert und verdrosch mich mit der Lederpeitsche.

Vielleicht hat Sie die Rechtschreibschwäche zum Rhetoriker gemacht?

Natürlich, sagt Ramelow, mein Handicap wurde zur Stärke. Ich lernte mich zu wehren. Eine halbe Stunde reglos aus dem Fenster gucken, das brachte die Lehrerin zur Verzweiflung. Große Klappe hatte ich auch. Vor allem konnte ich organisieren.

Mit 14 wurde Ramelow ausgeschult und begann eine Lehre zum Lebensmittelkaufmann bei Karstadt in Gießen. Davon schwärmt er noch heute. Seine Legasthenie fiel nicht auf. Es war die Zeit des Multiple Choice; statt zu schreiben, kreuzte man an. Der Jugendvertreter Ramelow entgeisterte seinen Arbeitgeber, indem er 100 Angestellte zum Gewerkschaftsbeitritt bewegte. Nach der Lehre, sagt Ramelow, wechselte ich nach Marburg, zu Tegut, damals HaWeGe. Dort war ich Substitut, also stellvertretender Filialleiter. Ein Schock: vom behüteten Kaufhaus in einen Supermarkt der brutalsten Art. Aber ich hab den ganzen Laden gewerkschaftlich organisiert.

Als Vizechef?

Jaaa!, lacht Ramelow. Bei HaWeGe gab’s eine Party, als ich kündigte. Ich wollte über den zweiten Bildungsweg Abitur machen und dann studieren, Weinbau und Getränketechnologie.

Das Abi schaffte er. Studiert hat er bloß ein Semester – nur weil der deutschnationale Juraprofessor von seinem Freund Alfred Dregger schwärmte und Beitritt zur Burschenschaft empfahl? Ramelow fremdelte auch mit dem linkstheoretischen Studentenmilieu. Er sagt: Ich war für die ein Prolet.

Die achtziger Jahre verbrachte Ramelow als mittelhessischer Sekretär der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherung. Die Mauer fiel, die Bundesrepublik adoptierte die DDR. Der DGB Hessen baute den DGB Thüringen auf. Ramelow wurde nach Erfurt entsandt – eigentlich nur für drei Monate.

Der erste Linke, der ein Bundesland regiert

1956 geboren, wuchs Bodo Ramelow in einem evangelischen Elternhaus in Rheinhessen auf. In Gießen erlernte er den Beruf des Einzelhandelskaufmanns. Von 1981 bis 1990 war er Gewerkschaftssekretär in Mittelhessen. 1999 wurde er Mitglied der PDS, und im selben Jahr wurde er in den Thüringer Landtag sowie 2005 in den Bundestag gewählt. Von 2007 bis 2010 war er Vorstandsmitglied der Partei Die Linke. Ramelow ist verheiratet und hat zwei Söhne.

Wer waren Sie damals?

Jemand, der es nicht ertrug, dass die zuständigen Gewerkschaften sich im Osten ihrer Aufgabe verweigerten. Ich verstand nicht, was die Bergbaugewerkschaft in Bischofferode tat beziehungsweise unterließ. Ich habe nie um Abfindungen gekämpft, sondern um alternative Beschäftigung, um die Marktfähigkeit von Ostbetrieben, um Zukunft und demokratische Wirtschaftsformen. Aber rasch ging es der Treuhand-Führung nicht mehr um Sanierung, sondern nur noch um Schnellabwicklung und Veräußerung.

Bischofferode, sagt Ramelow, habe ihn auch zurück zur Kirche geführt. Die ökumenischen Gottesdienste zur Bestärkung der Kalikumpel, die Glaubenskraft, die ostkirchliche Menschennähe. Ohne offene Kirchentür hätte Erfurt auch 2002 das Massaker am Gutenberg-Gymnasium nie verarbeitet. Im Übrigen sei er ja nicht mit Gott über Kreuz gewesen, sondern mit amtskirchlichem Bodenpersonal. Im Kindergottesdienst, in der Jugendstunde habe er Geborgenheit erfahren und dass es guttut, gemeinschaftlich Verantwortung zu übernehmen.

Herr Ramelow, warum sollte heute eine Koalition gelingen, die 2009 unmöglich war?

Er wirft sich in die Brust: Weil wir uns heute kennen und vertrauen. 2009 sind wir Linken siegesbesoffen gewesen, ich auch. Ich will nicht Ministerpräsident der Linken sein, sondern von Thüringen. Die Staatskanzlei war ein Vierteljahrhundert lang Außenstelle der CDU. Ich werde sie allen Koalitionsparteien öffnen.

Er tourte nimmermüde durch den Bratwurstkontinent Thüringen

Wir wüssten noch weitere Gründe für Ramelows Erfolg. Er nötigte die Linkspartei zum schonungslosen Blick aufs SED-Regime, dessen Übeltaten ja nicht die seinen waren. Er begriff die konservative Mentalität des Landes. Er tourte nahbar und nimmermüde durch den Bratwurstkontinent Thüringen. Er gilt als des Freistaats hellster politischer Kopf, zusammen mit Erfurts Oberbürgermeister, dem neuen SPD-Landesvorsitzenden Andreas Bausewein. Vor allem: Ramelow kommuniziert. Die Besuchszeit ist bereits aufs Doppelte gedehnt. Das liegt auch am Gastgeber, der kleine Geschichten so detailfroh erzählt wie die großen.

1999 wurde er Parteimitglied. 2005 organisierte er das Bündnis von PDS und WASG, dann deren Bundeswahlkampf. Das Berliner Karl-Liebknecht-Haus betrat er mit dem Satz: Ich habe einen schlechten Ruf und werde nichts tun, um ihn zu verbessern. Cholerisch? Rabiat? Sei er keineswegs, höchstens sachlich unduldsam. Bis 2009 saß er im Bundestag. In Berlin, sagt Ramelow, musste man sich einen Gysi, einen Lafontaine vom Halse halten, die Ratschläge gaben, wo vielleicht gar keine nötig waren. Er habe einen lebenslangen Stolz: Ich will niemals von anderen abhängig sein. So die persönliche Maxime. Politisch gelte: Ich lebe immer in Alternativen.

Schlussfragen:
 
Lieblingsfilm
?
– Das Leben des Brian.

Prägende Literatur?
– Von Stefan Heym habe ich alles gelesen. Ich denke oft an den Schluss von 5 Tage im Juni, über den Volksaufstand 1953:

"Wie stark und mächtig wird der Feind, wenn wir ihm alle Schuld in die Schuhe schieben."

Anderntags schlagen wir nach. Ziemlich genau zitiert. Es folgt der Satz:

"Auch für die Arbeiterbewegung gilt, dass nur der sich der Zukunft zuwenden kann, der die Vergangenheit bewältigt hat ..."

Schlicht und wahr.

Der Wechsel befördert die Demokratie, nicht ihren Untergang.

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: