Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 08.03.2015

Martin Roth: Demokratie ist kein Spaziergang

 
Selbst in London fragen sie nach Pegida. Martin Roth, der ehemalige Chef der Staatlichen Kunstsammlungen, blickt zurück auf seine Zeit in Dresden und stellt fest: Wir haben vergessen, was vor 25 Jahren passiert ist.

Wie sollte eine Bevölkerung unter solch unqualifizierter Anleitung ein demokratisches Verständnis entwickeln?, fragt Martin Roth. Kein Aufbegehren, kein Hinterfragen – Politikern wie Helmut Kohl – hier 1989 beim Dresden-Besuch – war die ergebene Haltung vieler Ostdeutscher mehr als recht.

In Deutschland gibt es ein seltsames Phänomen: Hie und da tauchen abstruse politische Bewegungen auf, meist gebunden an seltsame Persönlichkeiten. Sie leuchten kurz auf wie ein Komet und verglühen schon bald in der Weite der Geschichte, ohne eine Spur zu hinterlassen. Wer waren doch gleich Die Piraten? Und wer war noch mal dieser Herr Schill aus Hamburg, besser bekannt als „Richter Gnadenlos“?

In einer Zeit allgegenwärtiger Ängste und politischer Bedrohungen, egal, ob diese gerechtfertigt sind oder nicht, in solchen aufgeladenen Atmosphären entstehen radikale Bewegungen. Sie zeigen, dass man sich auf die selbstheilenden Kräfte der Demokratie nicht verlassen darf. Es ist an uns allen, also an den ernsthaften Vertretern der Demokratie, zu beweisen, weshalb es keine Alternative gab, gibt und geben wird.

Meine deutsche Herkunft und die Tatsache, dass ich in Großbritannien ein relativ bekanntes öffentliches Amt bekleide, bringen mich zuweilen in die Situation, als Experte für deutsche Fragen interviewt zu werden. Das Thema „Pegida in Dresden“ löste geradezu eine Welle von Anfragen aus. Dresden kennt in London aus bekannten Gründen jeder. Aber wie verbindet sich diese Stadt, die wie Phoenix aus der Asche auferstanden ist, mit diesen hässlichen, menschenverachtenden Aussagen? Was ich hier schreibe, habe ich so ähnlich auch in London gesagt, um einerseits für Verständnis zu werben und andererseits zu warnen. Mittlerweile ist Pegida auch in England angekommen.

Nie werde ich vergessen, wie ich im Herbst 1989 von der Autobahn abfuhr und plötzlich Dresden vor mir liegen sah. Es war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick, aber eine Liebe, an der man sich abarbeiten muss und die einen um den Verstand bringen kann – wie jetzt wieder. Dabei hatte es Dresden mir auch vorher nicht leichtgemacht. Mein Einreisevisum in die DDR wurde mir im letzten Moment im Zug weggenommen, weil ich nicht bereit war, Schmiergeld zu bezahlen. Auf dem Dresdner Hauptbahnhof durfte ich nicht aussteigen und musste nach Berlin weiterfahren.

Die Zeit nach der Wende war vollkommen gesetz- und haltlos. Christa Wolf erzählte mir, wie sie im Herbst 1989 mit Soldaten sprach, die an der Mauer auf den Einsatzbefehl gewartet hatten. Aber es kam kein Befehl. Alles, was den autoritären Staat ausgemacht hatte, bröckelte. Über die Grenze fuhr ich irgendwann mit meinem alten Führerschein, das Foto darin von 1976 mit langen Haaren. Ich hatte den Pass vergessen. Der Grenzer schüttelte nur müde und ungläubig den Kopf.

Während ich meine erste Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum vorbereitete, gab es keine freien Wohnungen. Manchmal schlief ich im Hotel, wenn es ein Zimmer gab, manchmal in einem Bauernhof, zeitweise im Krankenhaus in Coswig, manchmal sogar im Auto. Das alles hatte etwas zwischen Aufbruch ins Ungewisse und Jonglieren am Abgrund, stets mit dem Grundgefühl, dass die bessere Zukunft uns allen gemeinsam gehören, der harte Einsatz sich lohnen würde.

Bis, ja bis der erste fremdenfeindlich motivierte Mord in Dresden passierte: 1991 wurde der Mosambikaner Jorge Gomondai aus der Straßenbahn geworfen und starb im Krankenhaus an seinen Verletzungen. Ich kam recht spät zur Beerdigung in die Kirche, stand ganz hinten. Als sich die Kirchentore öffneten, standen draußen Glatzen. Selten habe ich mir Polizei so sehr herbeigewünscht wie in diesem Moment.

Es blieb nicht bei nur einem Vorfall dieser Art. Im Deutschen Hygiene-Museum vermieteten wir an einen Buchverlag einen Saal für eine Tagung. Doch der Verlag entpuppte sich im Museum als aggressive Nazi-Gruppierung. Der Einzige, der Hausverbot erteilen konnte, war ich: Ich stehe also plötzlich vor einer großen Menschenmenge und verweise alle des Gebäudes – ein Albtraum.

Die Ausländerbeauftragte der Stadt und ich diskutierten nächtelang mit jungen Nazis in meinem Büro. Ich wollte die Jugendlichen nach Israel schicken. Fast war es mir gelungen, Geld für diese Reise aufzutreiben. Aber die Politik riet ab.

Der Straßenstrich im Erzgebirge – schlimmer als Dantes Inferno. Im Deutschen Hygiene-Museum organisierten wir Geld für die Aidsprävention, die auch vom Museum aus koordiniert wurde. Wir erlebten albtraumartige Szenen mit „guten sächsischen“ Familienvätern – nicht wenige aus dem Westen.

Ich sehe meine berufliche Lebensaufgabe darin, die Erinnerung an das, was Deutsche der Menschheit einst angetan haben, lebendig zu halten, zu warnen, nicht zu vergessen, auch wiedergutzumachen, wenn das möglich sein sollte. Und ich arbeite immer noch dafür, Deutschland als glaubhaften Partner in der Welt der Kultur zu etablieren und die Welt der Kultur in die historische „Weltkunsthauptstadt“ Dresden zurückzubringen. Aber die Halbwertszeit der Erinnerung birgt einen letalen Faktor in sich. Das Vergessen geht rasend, wenn wir uns nicht permanent um die demokratische Alltags-Praxis kümmern. Die Politiker verschiedener Parteien hatten recht, als sie kürzlich mit Bezug auf Pegida betonten, dass man mit den Menschen reden muss. Reichlich spät fiel ihnen das ein. Man hätte die Menschen früher mitnehmen, auf ihre Sorgen reagieren und deutlich machen sollen, was die Gesellschaft von allen Mitbürgern erwartet.

Demokratie ist kein Spaziergang, keine Shoppingtour bei Kaufhof, kein Urlaub auf Mallorca, kein VW Golf und kein riesiger Flat-screen, kein Sexshop und kein Swingerklub. Demokratie heißt, dass es moralische und ethische Standards gibt, die für alle verbindlich sind. Mitnehmen heißt auch nicht, alle rechts zu überholen. Wir haben ein viel zu großes Verständnis entwickelt für alles, was im Osten passiert ist. Warum ist das so? Weil die Menschen nach der Wende ein hartes Leben hatten? Treuhandgebeutelt? Vorher war es noch viel härter, aber heimeliger. Man musste nicht für sich selber denken, wenn man sich mit dem Regime eingerichtet hatte. Mit der Demokratie kann man sich nicht einrichten, man muss sie täglich (er)leben, täglich sich für Freiheit und Gerechtigkeit einsetzen.

Aus dem Westen kamen die „Guten“ und die „Schlechten“ in den Osten. Die Suche nach einer Zukunft brachte Leute auf unseriöse Ideen. Anfang 1991 gab es permanent latente Bestechungsversuche im Hygiene-Museum, weil Unternehmen aufgrund des eklatanten Raumbedarfs und irrwitziger Mietpreise lieber Schwarzgeld zahlen wollten. Recht von Unrecht zu unterscheiden war für viele in wirtschaftlicher Not kein leichtes Unterfangen. Und es gab die „Guten“ und „Schlechten“ aus dem Osten. Die Hoffnung, die Gesellschaft ausbalancieren zu können, ein Verständnis für Recht, Ordnung, Gerechtigkeit und Toleranz zu vermitteln, motivierte alle, die ein vereinigtes besseres Deutschland wollten. Aber was haben wir gemeinsam gegen die getan, die dies infrage stellten? Ein Auge zugedrückt und so getan, als wäre alles okay?

Vieles haben wir weggesteckt um des lieben Friedens willen. Was passiert nun mit dem Frieden? Ich wage zu behaupten, dass manchen Politikern der autoritätshörige Osten nur allzu genehm war. Weshalb gab es keine intensiveren Versuche, das Unrecht im Osten aufzuarbeiten? Weshalb wurde vieles unter den Teppich gekehrt? Weil eine Wählerschaft, die nichts fürchten muss, mehr Vasallentreue zeigt?

Und so ging es weiter wie zuvor – nach dem Motto: Bist du nicht für mich, dann bist du mein Feind. Unendlich viele Erlebnisse dieser Art hatte ich auch als Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden nach der Jahrtausendwende. Bei jeder Kleinigkeit rief mich jemand aus dem Umfeld des damaligen CDU-Ministerpräsidenten Milbradt an und drohte mit Rausschmiss. Wenn ich mit der SPD sprach, drohte die Staatskanzlei unter Milbradt mit Repressalien. Es war schlimmer, als man sich das jemals vorstellen konnte.

Wie sollte eine Bevölkerung unter solch unqualifizierter Anleitung ein demokratisches Verständnis entwickeln? Ein Minister sagte einmal Mitte der 1990er-Jahre neben mir auf einem Podium aus Wirtschafts- und Kulturleuten: „Wer nicht weiß, was Dresden ist, den wollen wir auch nicht hier haben. Auf den können wir verzichten.“ Es ging um Marketing für Tourismus aus dem Ausland. Mit anderen Worten: Lieber keine ausländischen Touristen.

Unter dem vermeintlichen Motto „Wenn es gut für Sachsen ist, ist alles erlaubt“ versuchte ein sächsischer Bundestagsabgeordneter, Beschwerde einzulegen gegen die Vergabe des Buchladens in den Staatlichen Kunstsammlungen an eine Firma aus Köln. Ein Dresdner Unternehmer, der damals kurz vor dem Bankrott stand, sollte den Zuschlag bekommen.

Ich habe noch viele solcher Geschichten. Trotzdem bin ich dagegen, dass man jetzt Schuldige sucht und anzeigt. Das trägt nicht zu dem bei, was ich fordere: Geschichtsaufarbeitung, Verständnis, Toleranz und Weltoffenheit.

Wenn wir Dresden 1925 und Dresden 2015 vergleichen, dann sind das zwei verschiedene Städte. Das akademische Leben hat glücklicherweise wieder eine große Dimension erlangt. Wir belügen uns aber, wenn wir glauben, es gebe mehr als nur sentimentale Erinnerungen. Wo sind die Kirchen und Synagogen? Wo die Bürgerhäuser voll von prallem Leben? Wo der gediegene Luxus und der intellektuelle Anspruch? Wo der kunstsinnige Reisende? Wo das Bürgertum, das alles zusammenhält? Übrig geblieben ist eine Fassade, die Demokratie und Toleranz vorspielt.

Weshalb schreibe ich dies? Weil wir vergessen haben, was vor 25 Jahren passiert ist. Willfährigkeit als Prinzip, Unterordnung, das gefiel auch den Westlern, den Leihbeamten und den Politikern. Eine willfährige Gesellschaft ist leichter zu kontrollieren. Demokratie funktioniert anders.

Ich habe große Achtung vor den vielen, die etwas für den Osten tun. Nicht jeder kam, weil er als Notar in Dresden die Lizenz zum Gelddrucken erwerben konnte. Ich habe in Dresden sehr viele motivierte Menschen aus allen Teilen Deutschlands kennengelernt. Ihre Ratlosigkeit und Verzweiflung erreicht mich auch hier in London. Noch größere Achtung habe ich vor denjenigen, die im Osten aufgewachsen sind, die all die Veränderungen erkämpft haben und sich auch heute noch, 25 Jahre danach, tagtäglich für die Demokratie einsetzen. Nur so funktioniert Demokratie – ein hohes Gut, eine offene Gesellschaft, die das Recht auf freie Meinungsäußerung und freie Debatten permanent verteidigt.

Und die Muslime? Wir haben es irgendwie geschafft, klarzumachen, dass schlechtes Reden über Menschen mit dunklerer Hautfarbe Rassismus ist. Wer schlecht über Juden redet, wird zu Recht des Antisemitismus bezichtigt. Aber wer gegen Muslime wettert, kann sich derzeit als Verteidiger der Meinungsfreiheit bezeichnen.

Von Martin Roth

Prof. Dr. Martin Roth (60) war in den Jahren 1991-2000 Direktor des
Deutschen Hygienemuseums in Dresden und der Expo-Hannover,
danach Generaldirektor des staatlichen Kunstsammlungen Dresden.
Seit 2011 leitet er das "Victoria and Albert Museum" in London.

http://www.sz-online.de/nachrichten/kultur/demokratie-ist-kein-spaziergang-3053017.html

Karl Nolle im Webseitentest
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