Sächsische Zeitung, 10.06.2015
Bürgerlich: Was heißt das eigentlich?
Im Dresdner Wahlkampf formiert sich das „bürgerliche Lager“. Was heißt das eigentlich? Was ist „bürgerlich“? Vielleicht steht Oberbürgermeisterkandidat Dirk Hilbert dafür. Man weiß es nicht genau.
Wer in Dresden gutbürgerlich essen gehen möchte, findet eine breite Auswahl. Mehr als hundert Tipps listet ein Stadtmagazin unter dem Stichwort „Bürgerliche Restaurants“ auf, es gibt Schnitzel, Kartoffeln und Bier. Ob es hier zu speisen pflegt, das „bürgerliche Lager“, das sich im Oberbürgermeister-Wahlkampf gegen Rot-Rot-Grün formiert? Oder trifft man es eher in den Tempeln des Dresdner Kulturbürgertums, in der Semperoper, in der Galerie Alte Meister?
„Bürgerlich“, welch schillernder Begriff: Für die einen ist es eine edle Gesinnung, für die anderen der Ausdruck von Spießigkeit. Trotzdem möchten plötzlich alle Teil des „bürgerlichen Lagers“ sein, zu dem man gemeinhin CDU und FDP zählt. Das Wutbündnis Pegida will dazugehören, die AfD sowieso, aber auch die SPD. Deren Parteichef Sigmar Gabriel sagt: „Was sind wir denn eigentlich, und wer hat die erste bürgerliche Demokratie mit seiner Freiheit und seinem Leben verteidigt? Sozialdemokraten!“ Andererseits hinderte ihn das nicht, dem neuen schwedischen Ministerpräsidenten Stefan Löfven als Parteifreund zu gratulieren und dabei zu betonen: „Die bisher regierenden konservativen und bürgerlichen Parteien haben verloren.“ Offenbar hat sich der Begriff auch bei ihm allzu sehr – nun ja – eingebürgert.
Vor nicht allzu langer Zeit war „bürgerlich“ noch ein Schimpfwort aus dem Mund von Sozialdemokraten, Linken, Achtundsechzigern. Das Bürgertum verkörperte aus ihrer Sicht reaktionären Dünkel, Ausbeutung, den Muff von tausend Jahren. Auch die SED-Propaganda benutzte den Ausdruck als Schmähung. Ebenso antibürgerlich war die Ideologie der Nationalsozialisten.
Bei aller Mehrdeutigkeit des Begriffs hat sich in jüngster Zeit aber offenbar die positive Seite durchgesetzt. Bürgerlich, das ist die Mitte. Und es sind wohl die oft zitierten bürgerlichen Tugenden, die gerne auch Sozialdemokraten, Grüne und Linke für sich in Anspruch nehmen. Dazu zählen Gesetzestreue, Bescheidenheit, Zuverlässigkeit und Verantwortungsbewusstsein. Inwiefern auch das Pegida-Personal solche Tugenden verkörpert, darüber möge sich jeder selbst ein Urteil bilden. Die Pegida Kandidatin Tatjana Festerling bezeichnete ihre politischen Gegner bei einer Rede am 1. Juni vor der katholischen Hofkirche öffentlich als „Dummköpfe“, „Alkoholiker“, „grüne Männlein“ und „Kinderficker“. Solcher Gossenjargon ist für eine Dame, die sich selbst als „bürgerlich-konservativ“ beschreibt, einigermaßen verblüffend.
Citoyen und Bourgeoisie
Das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm definiert „bürgerlich“ zunächst noch als „gegensatz zu edel und adellich“, abgeleitet von dem Wort Bürger als „burgbewohner im gegensatz zum land“. In diesem historischen Standardwerk der Sprache finden sich auch schon Attribute des Bürgerlichen wie „sparsam“, „ehrbar“, „höflich“, aber auch „behäbig“. Das Französische kennt für die Sache zwei Begriffe, was die Doppeldeutigkeit im Deutschen erklärt: citoyen bezeichnet den Staatsbürger allgemein, die Bourgeoisie hingegen ist das Bürgertum als Schicht oder Klasse. Wer das Bürgerliche vornehmlich als citoyen verstände, für den wäre es tatsächlich widersinnig, bloß CDU und FDP in diesem Lager zu verorten. Bürgerlich wären dann im Grunde alle demokratischen Parteien. Da im Deutschen jedoch die Bedeutung bourgeois immer noch mitschwingt, erwartet man die bürgerlichen Parteien doch zunächst im rechten, liberalen und konservativen Spektrum.
Das Bürgertum als Klasse, darüber sind sich die meisten Historiker einig, gibt es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Was bleibt, sind Klischees, die sich gleichfalls auflösen: Anzug und Krawatte, Ehe und Familie, Hochkultur und klassische Bildung. „Man muss sich hüten, dass man nicht aus einem gewissen Wohlstand und adretten Kleidern den Schluss zieht, das sei das neue Bürgertum“, hat der Verleger Wolf Jobst Siedler gesagt. Sein Gespräch mit dem Historiker Joachim Fest erschien vor zehn Jahren als Buch unter dem Titel „Der lange Abschied vom Bürgertum“.
Siedler und Fest – Bürger, wie sie im Buche stehen – sind inzwischen gestorben. Ihr Gespräch bleibt aktuell. „Vielleicht“, meinte Joachim Fest, „gibt es keine Bürger mehr, weil das dem Einzelnen zu viel abverlangt. Und es bezeichnet geradezu unsere Zeit, dass sich niemand etwas abverlangt.“ Ein citoyen pocht nicht nur auf seine Rechte, sondern erfüllt auch seine bürgerlichen Pflichten. Und bei aller Begriffsverwirrung bleibt eines wohl unstrittig: Wer in einer Demokratie nicht zur Wahl geht, verhält sich durch und durch unbürgerlich.
Von Marcus Krämer