Süddeutsche Zeitung, 02.09.2018
Die Wahrheit lügt in Sachsen - Das Land hat die Rechtsextremen zu lange gewähren lassen
Kolumne: Prantls Blick
Es gibt Leute in Sachsen, die den Hitlergruß für das sächsische "Grüß Gott" halten. Es gibt Leute in Sachsen, die "elendes Viehzeug" sagen, wenn sie von Flüchtlingen reden. Es gibt eine schnell aktivierbare Szene in Sachsen, die zu ausländerfeindlicher Randale immer bereit ist.
Symptom: Braune Punkte
Es gibt auch Gründe, warum es das gibt: Unter anderem ist das deswegen so, weil der Staat zu lange untätig zugeschaut hat; der Staat hat versucht, die Probleme mit Rechtsradikalen und Rechtsextremisten kleinzureden; und zwar auch dann noch, als er vom realen Leben und elenden Ausschreitungen eines Schlechten belehrt wurde. Zuletzt in Chemnitz ist die Polizei, wieder einmal, auf ihren eigenen staatssächsischen Aberglauben hereingefallen, der davon handelt, dass "wir in Sachsen immun" sind gegen den braunen Extremismus. Diese Immunität zeigt freilich seltsame Symptome: braune Punkte. Es gibt eine breite und lautstarke kleinbürgerliche Szene, die braun gepunktet ist; für diese Szene ist der "Mann mit dem Deutschland-Hut" typisch, der neulich bei einer Rechtsaußen-Demo in Dresden die Polizei auf ZDF-Journalisten gehetzt hat.
Es gibt ein anderes, ein aufgeklärtes Sachsen
Aber: das ist nicht ganz Sachsen. Es gibt neben dieser Unzivil-Gesellschaft eine rührige Zivilgesellschaft, es gibt noch ein anderes Land, das Sachsen heißt - ein modernes, aufgeklärtes, aufgeschlossenes Sachsen. Allein in Dresden haben 41 Vereine Integrationsprojekte mit Flüchtlingen offiziell angemeldet. Ein Bündnis für Akzeptanz und Menschlichkeit, es heißt "Dresden Respekt", macht dort sehr respektable Arbeit. Und eine Initiative, die "Dresden isst bunt" heißt, lädt einmal im Jahr zu einer riesigen sternförmigen Tafel auf den Neumarkt ein, zu einem Gastmahl im Herzen der Stadt. Seit 24 Jahren wird in Dresden der Erich-Kästner-Preis verliehen; er geht an engagierte, beeindruckende Personen, die, im Kleinen und im Großen, Dinge auf die Beine stellen, für die das Wort "bürgerschaftliches Engagement" eine sehr trockene Beschreibung ist.
Vor drei Jahren habe ich dazu in Dresden die Festrede halten dürfen. Ich habe dort ein anderes Dresden kennengelernt, Leute, die Sprachkurse, Hausaufgabenbetreuung und Patenschaften organisieren, Leute, die sich von den Braungepunkteten und von den Extremisten nicht ins Bockshorn jagen lassen. Von Erich Kästner, er war ein gebürtiger Dresdner, stammt der Spruch: "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es." Man kann diesen Satz für esoterisches Geschwätz halten. Aber das ist falsch. Der Satz ist eine Aufforderung. Und es gibt in Sachsen viele Menschen, die ihr Folge leisten und sich der grassierenden Hetze gegen Flüchtlinge in ihrer Heimat entgegenstellen. Aber sie haben nicht die Aufmerksamkeit, die die braunen Gemeinheiten des vielfach vorbestraften Pegida-Gründers Lutz Bachmann haben.
Soko Rex - aufgelöst
Es gibt nichts Gutes, außer man tut es: Es wäre gut gewesen, wenn der handgreifliche Hass vom Staat nachhaltig und entschlossen bekämpft worden wäre. Dann hätte die giftige Saat nicht so aufgehen können. Die Menschenwürde, von Hassbürgern getreten, braucht Hilfe, auch von der Polizei, auch von den Strafgerichten. In Sachsen hat sie diese Hilfe noch weniger erhalten als anderswo in den neuen Bundesländern.
Es gibt in Sachsen so viele eklatante Fehler, nicht nur bei den aktuellen Polizeieinsätzen; die Fehler reichen weit zurück. 1991, nach den Hetzjagden von Hoyerswerda, hat der damalige sächsische Innenminister Heinz Eggert (CDU) die Soko Rex aufgebaut, eine schnell sehr erfolgreiche, hochangesehene und rechtsaußen gefürchtete Polizeieinheit gegen gewalttätigen Rechtsextremismus. Nach ein paar Jahren, nach Eggerts Ausscheiden aus dem Amt, ist sie aufgelöst worden. Sie hatte da soeben mit Strukturermittlungen gegen die Rechtsextremisten begonnen. Die Strukturen konnten sich dann ziemlich unbehelligt herausbilden.
Der Immunitäts-Schwindel
Die Sachsen "sind immun gegen Rechtsradikalismus". Der Satz stammt von Kurt Biedenkopf, der das Land von 1990 bis 2003 als Ministerpräsident regierte und als König von Sachsen“ bezeichnet wurde. Biedenkopf wusste natürlich, dass es in seinem Land einen Sockel von Rechtsradikalismus gibt. Er stellte sich gravitätisch auf diesen Sockel, um ihn nicht hochkommen zu lassen.
Der Rechtsradikalismus wurde verharmlost, geleugnet, verdrängt - und wenn das nicht mehr funktionierte, dann wurde halt Braun und Rot gleichgesetzt, dann wurde der (existente, aber bei Weitem nicht so virulente) Linksextremismus herangezogen, um den Rechtsextremismus damit quasi auszutarieren. Und Maßnahmen gegen Rechtsaußen wurden fast immer daran gekoppelt, dass es diese Maßnahmen auch gegen Linksaußen gab. Dass Rechtsaußen viel gefährlicher, viel ausgreifender war - das wollte und will man nicht sehen.
Biedenkopfs Sockel
Aber als Biedenkopf abgetreten war, stellte sich heraus, dass dieser Sockel gewachsen, dass er viel höher geworden war - unter der Hand, genauer gesagt unter dem Fuß von Biedenkopf. Bei der ersten Landtagswahl nach Biedenkopf, es war im Jahr 2004, kam die NPD erstmals in den Landtag, mit 9,2 Prozent der Stimmen. Nach der Wahl von 2009 zog sie wiederum in den Landtag ein; bei der Wahl von 2014 verpasste sie die fünf Prozent und damit den Wiedereinzug in den Landtag nur um ein paar hundert Stimmen; aber die AfD kam in den Landtag, mit 9,7 Prozent. Zuletzt, bei der Bundestagswahl von 2017, erreichte die AfD 27 Prozent, lag damit auf Platz eins der Parteien in Sachsen. Im nächsten Jahr ist wieder Landtagswahl.
Die Polizei wünscht den Pöblern "einen erfolgreichen Tag"
Die Sachsen "sind immun gegen Rechtsradikalismus"? Wenn ich diesen Satz höre, sehe ich den Galgen für Merkel vor mir, den Pegida-Demonstranten in Dresden mit sich getragen haben. Und mir fallen die Feiern zum Tag der Deutschen Einheit im Jahr 2016 in Dresden ein, als die politischen Repräsentanten der Bundesrepublik mit "Hau ab" und zotenhaften Beleidigungen empfangen wurden; ein schwarzhäutiger Mann, der zum Gedenkgottesdienst ging, wurde mit Affenlauten begrüßt. Und mir fällt ein, dass die Polizei nicht eingriff, hier nicht und dort nicht; es gab keine Feststellung der Personalien, es gab keinen Platzverweis, nichts - nur eine Ordnungsdurchsage, die mit dem Satz endete: "Wir wünschen einen erfolgreichen Tag für Sie!"
Der Rassismus hat gut überwintert
Der Rechtsextremismus fand nach der Wiedervereinigung in allen neuen Bundesländern gute Bedingungen vor. Erstens: Antisemitismus und Rassismus hatten in Ostdeutschland seit dem Zweiten Weltkrieg überwintert und waren nach der Wende wieder virulent geworden. Zweitens: Weil sich die alte Homogenität der DDR-Gesellschaft aufgelöst hatte, wurde und wird ihr Andenken durch Abwehr alles Fremden verteidigt. Drittens: Die DDR war ein Ort autoritärer Sozialisation, es fehlte nach der Wiedervereinigung eine demokratische Tradition. Viertens: Politik und Gesellschaft traten den Menschenrechtsverletzungen nicht klar genug entgegen. Fünftens: Soziale Spannungen prägten das gesellschaftliche Klima nach der Wiedervereinigung. All diese Faktoren wirkten und wirken zusammen, in Sachsen besonders krass.
Wehre den Anfängen! Aber: Das sächsische Staatswappen ist der eingezogene Schwanz
Es begann mit Hoyerswerda. Vom 17. bis zum 23. September 1991 wurden Ausländer, es waren vietnamesische Vertragsarbeiter, von Hunderten von Personen erst gejagt, dann im Wohnheim belagert und schließlich von der Polizei unter dem Gejohle der Belagerer aus der Stadt gekarrt. So sieht es aus, wenn der Rechtsstaat den Schwanz einzieht. Der eingezogene Schwanz ist seitdem zum sächsischen Staatswappen geworden.
Von Hoyerswerda 1991 führen braune Linien nach Heidenau in Sachsen. Dort randalierte Ende August 2015 ein aufgebrachter Mob zwei Nächte vor der Flüchtlingsnotunterkunft. Und von Heidenau im August 2018 führt ein Wegweiser zur Hetzjagd gegen Flüchtlinge in diesen Tagen in Chemnitz. Die Verharmlosung geht weiter, sie hält an. Es wird von Rechtspopulismus geredet; es geht aber um ekelhaften Rassismus, es geht um Rechtsextremismus.
Das Land Sachsen braucht mehr als ein paar Hundertschaften Bundespolizei. Es braucht eine demokratische und rechtsstaatliche Volksmission. Die muss in der nächsten Woche, die muss in den nächsten Monaten beginnen. Diese Missionsarbeit wird Jahre dauern.
Eine gute erste Septemberwoche wünscht Ihnen
Ihr Heribert Prantl,
Mitglied der Chefredaktion und Leiter des neuen SZ-Ressorts Meinung