SPIEGEL ONLINE, 16.11.2018
Ein Ruck nach links wäre tödlich für die SPD
Meine Partei wird dringend gebraucht - als starke Volkspartei, die sich um die Mitte bemüht.
Klaus von Dohnanyi über seine Partei
Der Sozialdemokrat Dohnanyi, 90, war Bundesbildungsminister
und Erster Bürgermeister der Hansestadt Hamburg.
Die SPD verliert weiter an Zustimmung. Umfragen sehen sie gleichauf mit der AfD, die Grünen eilen weit voraus. Eine Parteiführung ohne erkennbares Selbstvertrauen sucht bei Linksaußen wie dem griechischen Premierminister Alexis Tsipras Ermutigung, und die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles möchte die Agendareformen von Bundeskanzler Gerhard Schröder zurückdrehen. Ist diese SPD verloren? Wird sie noch gebraucht?
An Ratschlägen fehlt es nicht. Im SPIEGEL vom 20. Oktober forderte Veit Medick im Leitartikel den Abschied vom Reformweg des Godesberger Programms von 1959, mit dem sich SPD und Marktwirtschaft endlich versöhnten. Die Partei solle sich nun "ein Stück zurück in die Nische" vor Godesberg zurückziehen, schreibt Medick, und "natürlich muss sie nach links". So sieht es wohl auch ein großer Teil der SPD. Aber weiter links gibt es schon die Linke mit stabilen zehn Prozent. Die Grünen wiederum sind erfolgreich, gerade weil sie keinen verschärften Linkskurs verfolgen.
Die SPD fehlt heute also nicht als "linke" Partei: Sie fehlt als Volkspartei mit breitem Spektrum, die Arbeitnehmer, Handwerker, fortschrittlich denkende Unternehmer und Wissenschaftler anspricht. Sie fehlt als Gegengewicht zur Union für einen möglichen Machtwechsel mit einem sozialdemokratischen Bundeskanzler. Machtwechsel sind die Eckpfeiler jeder Demokratie, aber nur wer die Mitte erreicht, wird ihn auch herbeiführen können. Bei allem Erfolg der Grünen: Die arbeitende Mitte werden sie nicht gewinnen, das zeigt ihr leichtfertiger Umgang mit der Autoindustrie und ihre Forderung nach einem überhasteten Kohleausstieg.
Deutschland braucht aber zwei starke Volksparteien, die sich um die Mitte bemühen. Beide, Union und SPD, stehen derzeit enorm unter Druck, die SPD allerdings weit stärker. Sind die Volksparteien noch zu retten? Die fortschreitende Umwälzung des Parteiensystems in vielen westlichen Demokratien scheint dagegen zu sprechen. Allerdings sind diese Entwicklungen immer Folgen des Wahlrechts: Je niedriger die Schwelle zum Mandat, desto zersplitterter das Parlament, desto schwieriger die Regierungsbildung, desto instabiler später auch die Regierung. Doch das britische Mehrheitswahlrecht führt auch heute noch immer zu "Volksparteien". Uns schützten bisher die Fünf-Prozent-Klausel und das konstruktive Misstrauensvotum, das es sehr schwer macht, einen Kanzler abzuwählen. Aber wie lange werden diese Mechanismen noch garantieren, dass es bei uns stabile Regierungen gibt?
Das heutige Verhältniswahlrecht, gepaart mit der Flut neuer Medien, gefährdet die Stabilität auch unserer Demokratie. Doch an Verbesserungen des Wahlrechts zu denken ist aussichtslos. Schon heute zeigen sich Union und SPD außerstande, auch nur die Größe des Bundestags sinnvoll zu begrenzen oder die Funktionsfähigkeit des Bundesrates vor lähmenden Stimmenthaltungen zu schützen. Der Trend zur Fragmentisierung des Parteiensystems wird sich auch bei uns weiter fortsetzen.
Wir brauchen aber starke Volksparteien. Die Union war in dieser Beziehung bisher erfolgreicher, sie scheint auch jetzt auf einem aussichtsreicheren Weg. Und die SPD? Hat sie noch eine Chance? Obwohl sich noch nie so viele "sozialdemokratische" Fragen stellten, gab es von ihr noch nie so wenige überzeugende Antworten. Der frustrierende Links-rechts-Streit blockiert unser Denken und Handeln. Meine Partei muss sich endlich damit versöhnen, dass es keine "Systemalternative" gibt: Freiheit und Marktwirtschaft sind untrennbar miteinander verbunden, auch wenn internationaler Wettbewerb gelegentlich bittere Sachzwänge schafft. Mehr Wahrheit über die Wirklichkeit und innerparteilicher Mut sind gefragt, nicht mehr "Systemkritik".
Das Godesberger Programm begann in seiner Präambel mit den Worten: "Das ist der Widerspruch unserer Zeit" – gemeint waren die Nutzen, aber auch die Gefahren des atomaren Zeitalters. Heute müssen wir den neuen Widerspruch unserer Zeit erkennen: Nutzen und Gefahren der digitalen Revolution. Diese ist die Ursache der um sich greifenden Unsicherheiten und Ängste. Wir müssen offen über den verschärften internationalen Wirtschaftswettbewerb reden; von der digital beschleunigten Globalisierung, die als Kontrollverlust wahrgenommen wird und Nationalismus und Europaskepsis hervorruft; von den Folgen für die Arbeitswelt; von der wachsenden Ungleichheit auch zwischen Stadt und Land, aber auch in der Welt; von Cyberwar und Fake News und den neuen Gefahren für äußere und innere Sicherheit. Die SPD kann hier einen großen Schritt nach vorne wagen. Denn Deutschland leidet nicht unter einer Politiksklerose wie die USA oder Großbritannien, von der linke Politiker wie Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn profitieren.
Die Digitalisierung wird alle Bereiche der Gesellschaft tiefgreifend verändern. Vor ihrem Hintergrund werden sich auch die von der SPD so erfolgreich eingeleiteten Reformen bewähren müssen. Hier einen glaubwürdigen Zukunftsentwurf für ein politisches Programm einer zuversichtlichen, mutigen und reformstarken Volkspartei SPD im digitalen Zeitalter zu entwerfen, ist unsere Aufgabe. Wir gehören nicht in verstaubte Nischen von Wagenknecht und Co.