Süddeutsche Zeitung, Prantl Blick - politische Wochenschau, 26.01.2020
75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz,
"Ein Toter = zehn Minuten Gefängnis."
Es gibt verschiedene Formen, Arten und Abarten von Mut: Es gibt den Heldenmut, für den Siegfried, der Drachentöter, das Urbild ist. Es ist dies ein Mut, der mit Hurra und Trara und viel Ego daherkommt. Das Gegenteil des Heldenmuts ist der Mut der Furchtsamen, der Kleinmut. Es gibt auch noch den Übermut, der bekanntlich nicht gut tut. Und es gibt den Mut der Eingebildeten, die sich für etwas Besseres halten; das ist der Hochmut. Und dann gibt es den Mut, der einen weiblichen Artikel hat: das ist die Demut. Die Demut ist eine ganz besondere Form des Muts, es ist wohl die anspruchsvollste.
Scham und nachhallendes Entsetzen
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat soeben in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, zum 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, eine demütige Rede gehalten. Es war nicht nur eine Rede für das Geschichtsbuch. Es ist eine Rede zum Nachlesen, zum immer wieder Nachlesen, eine Rede mit sehr berührenden, sehr bewegenden Sätzen, mit Sätzen der Scham und des nachhallenden Entsetzens. Steinmeier begann die Rede in Hebräisch, und zwar nicht nur in einem Satz, sondern sehr ausführlich und flüssig, um dann nicht ins Deutsche, sondern ins Englische zu wechseln. Das war eine buchstäblich sprechende Geste. Die erste Strophe der Kinderhymne von Bert Brecht fiel mir dazu ein: "Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand, dass ein gutes Deutschland blühe, wie ein andres gutes Land." Mit diesen vier Eigenschaften hat der Bundespräsident in seiner Rede nicht gespart.
"Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutschen haben für immer aus der Geschichte gelernt", sagte Steinmeier. Doch das könne er nicht, wenn und weil sich Hass und Hetze in Deutschland ausbreiten. "Wir Deutsche erinnern uns", stellte er fest. "Aber manchmal scheint es mir, als verstünden wir die Vergangenheit besser als die Gegenwart." Und diese Gegenwart, in der Antisemitismus und Rassismus sich wieder aufblähen, so als wäre nichts gewesen, diese Gegenwart beschrieb er schonungslos: "Es sind nicht dieselben Täter. Aber es ist dasselbe Böse."
Schnörkellos bewegend
Selten hat ein Bundespräsident über dieses Thema so schnörkellos bewegend geredet. Steinmeier ist eigentlich kein begnadeter Redner. Aber er hat die Gabe der leisen, eindringlichen und ergreifenden Töne; und er hat die Sensibilität, sich nicht auf eine Gnade der späten Geburt zu berufen. Er ist glaubwürdig im Wortsinn.
Von Demut reden neuerdings Manager, Politiker und Fußballtrainer in Interviews gerne; sie wollen, sagen sie, demütig sein - angesichts der großen Aufgaben und Herausforderungen, vor denen sie stehen. Im Angesicht von Triumph oder Niederlage reden sie dann von "Demut und Verantwortung" und meinen aber eigentlich ihre Macht und die Mittel, diese Macht zu festigen. Zu diesen Mitteln gehört dann auch die angebliche Demut.
Demut wird auf diese Weise bei denen, die ihre Macht genießen und erhalten wollen, zur zweckdienlichen Kultur- und Herrschaftstechnik. Man macht sich groß, in dem man bescheiden tut. Solche Demut lacht sich ins Fäustchen über den Eindruck, den sie bei anderen macht. Die Redereien von Demut sind dann nur eine rhetorische Übung, eine Übung in monumentaler Bescheidenheit.
Ein Präsident, der nicht tönt, aber den richtigen Ton trifft
Steinmeier gehört nicht zu diesen Monumentalisten. Er behängt sich nicht mit Wortgirlanden von Scham und Schande. Er redet nicht von Demut. Er zeigt sie in der Art und Weise, wie und worüber er spricht. Seine Demut ist eine Form des Widerstands gegen Dünkel, gegen Vergessenheit, gegen neonazistische Unverschämtheiten, gegen alltägliche Gewalttaten und gegen den verbreiteten Phlegmatismus, der diese Unverschämtheiten und diese Gewalttaten begleitet.
Steinmeier ist ein sorgfältiger, kluger und geschichtsbewusster Präsident, der nicht tönt, aber dafür den richtigen Ton trifft. Das hat er schon am 2. September 2019 bei der Gedenkfeier der Republik Polen zum 80. Jahrestag des Kriegsbeginns eindrucksvoll gezeigt. Auch das war und ist eine Rede zum immer wieder Nachlesen: "Das vereinte Europa ist die rettende Idee. Es ist die Lehre aus Jahrhunderten von Krieg und Verwüstung, von Feindschaft und Hass. Ja, dieses Europa hat das Schlechteste der Menschen gesehen und dennoch, von Neuem, auf sein Bestes gesetzt. Das vereinte Europa setzt auf die Kraft von Humanismus und Aufklärung, auf Freiheit und Recht, auf den Reichtum seiner Sprachen und Kulturen. Dieses Europa ist und bleibt ein Projekt der Hoffnung."
Was ein Einzelner bewirken kann
Man darf sich zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz auch an den Auschwitz-Strafprozess erinnern, der 18 Jahre nach der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers begann. Er ist auch ein Beispiel dafür, was ein Einzelner bewirken kann. Ohne den Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hätte es diesen Prozess, der ein Wendepunkt war in der deutschen Nachkriegsgeschichte, nicht gegeben. Ohne diesen Prozess wäre die Öffentlichkeit noch viel länger vor den NS-Verbrechen davongelaufen, hätte die Loyalität mit den NS-Verbrechern noch viel länger gedauert.
Auschwitz lag hinter dem Eisernen Vorhang, die deutsche Staatsanwaltschaft berief sich auf örtliche Unzuständigkeit, in der Justiz gab es massive Vorbehalte gegen die Ermittlungen; die Forderung nach Straffreiheit für NS-Täter war weit verbreitet; die Justizministerkonferenz hatte sich geweigert, die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen mit vollen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungskompetenzen auszustatten. Es gab also keine zentralisierte, für die Großverbrechen zuständige Anklagebefugnis. In dieser Situation hat Fritz Bauer die Ermittlungen, wie das im Juristendeutsch heißt, "an sich gezogen". Freunde machte er sich so nicht: Er betrete feindliches Ausland, so sagte er, sobald er sein Dienstzimmer verlasse.
Als der Richter weinte
Das Urteil umfasst in der Druckfassung 400 Seiten. Der Sachverhalt wird detailliert geschildert: "Das Zyklon B befand sich im körnigen Zustand in verschlossenen Blechdosen. Die SS-Männer öffneten die Dosen unter dem Schutz von Gasmasken erst unmittelbar vor dem Einschütten. (...) Es entwickelten sich Blausäuredämpfe, an denen die in der Gaskammer befindlichen Menschen in wenigen Minuten qualvoll erstickten. Dabei spielten sich fürchterliche Szenen ab. Die Menschen, die nun merkten, dass sie eines qualvollen Todes sterben sollten, schrien und tobten und schlugen mit den Fäusten gegen die Türen und gegen die Wände. Da sich das Gas vom Boden des Vergasungsraums aus nach oben ausbreitete, starben die kleinen und schwächeren Menschen zuerst. Die andern stiegen dann in ihrer Todesangst auf die am Boden liegenden Leichen, um noch etwas Luft zu erhalten, bis sie selbst qualvoll erstickt waren. Um die Todesschreie der im Vergasungsraum befindlichen Menschen zu übertönen, ließ man beim kleinen Krematorium häufig Lastwagenmotoren laufen oder SS-Männer mit Motorrädern herumfahren."
Dem Staatsanwalt Joachim Kügler versagte beim Schlussplädoyer die Stimme. Der Vorsitzende Richter Hans Hofmeyer wurde während seiner Urteilsbegründung von Tränen übermannt. Am 19. August 1965, nach fast zweihundert Verhandlungstagen, nach Vernehmung von 360 Zeugen, darunter 211 Überlebenden des Vernichtungslagers, verkündete das Schwurgericht Frankfurt das Urteil im Auschwitz-Prozess: 17 Angeklagte wurden wegen 15 209 Morden verurteilt. Insgesamt waren in Auschwitz 1,2 Millionen Menschen umgebracht worden.
Ein Toter = 10 Minuten Gefängnis
Nur sechs der Angeklagten wurden als Mörder mit lebenslangem Zuchthaus bestraft, weil sie "zusätzliche Formen von Grausamkeit" praktiziert hatten. Die anderen elf Angeklagten galten lediglich als Mordgehilfen, als Rädchen im Vernichtungsbetrieb, weil sie kein eigenes Interesse an der Tat gehabt hätten. Sie hatten zwar an der Rampe von Auschwitz entschieden, wer sogleich vergast und wer erst zum Arbeitseinsatz kommandiert wurde; sie hatten zwar tödliche medizinische Experimente an den Opfern angeordnet. Aber sie wurden, selbst wenn sie eigenhändig getötet hatten, als fremdgesteuerte Funktionsträger betrachtet.
So war es Praxis der Rechtsprechung: Die Gerichte urteilten so, als habe es nur einen Täter, im Übrigen aber nur Gehilfen gegeben - als habe Adolf Hitler persönlich die Juden in die Gaskammern gestoßen und die Verbrennungsöfen befeuert. Diese Judikatur, vom Bundesgerichtshof begründet, war der Grund dafür, warum Ernst Bloch von "Streichelstrafen für Mörder-Nazis" sprach, und warum die Oberstaatsanwältin Barbara Just-Dahlmann das Missverhältnis zwischen Sachverhaltsaufklärung und strafrechtlicher Bewertung bei den NS-Verfahren in die Faustformel packte: "Ein Toter = zehn Minuten Gefängnis."
Blick in die Mordmaschinerie
Die justizielle Verharmlosung war die zweite deutsche Schuld. Aber vielleicht waren die verhängten Strafen gar nicht von entscheidender Bedeutung. Entscheidend war der Blick in die NS-Mordmaschinerie, zwanzig Monate lang. Ohne diesen Blick in die Gaskammern, ohne die akribische Analyse der Anatomie des NS-Staates wäre der Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen worden, wäre millionenfacher Mord verjährt. Fritz Bauer hat diesen Prozess erzwungen - nicht weil er, der Jude, rachsüchtig war; er hoffte vielmehr, wenn auch vergeblich, auf die Reue der Täter. Er tat es, weil er ein leidenschaftlicher Humanist war und ein Missionar des Rechtsstaats. Demokratie braucht solche Akte des Muts. Und sie braucht die Demut, wie sie Bundespräsident Steinmeier in Yad Vashem gezeigt hat.
Der Anteil derjenigen, die einen Schlussstrich unter die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ziehen wollen, ist in den vergangenen Jahren gestiegen. 37 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, die Deutschen sollten sich nicht mehr so viel mit der NS-Zeit beschäftigen und einen Schlussstrich ziehen. 2018 lag der Anteil noch bei 26 Prozent. Der Bundestag gedenkt am Mittwoch, 29. Januar, der Opfer des Nationalsozialismus und der Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen am 27. Januar 1945. Die Gedenkstunde beginnt um 11 Uhr im Plenarsaal.
von Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung