Sächsische Zeitung, 01.09.2000
Die Mauer im Kopf
"Die Sozialdemokraten im Freistaat leiden unter völligem Realitätsverlust."
(Kommentar von Peter Weißenberg): Schauen wir uns doch einmal drei Meldungen der vergangenen 48 Stunden an: Da schlagen die Gewerkschaften Alarm. Zu Beginn des neuen Ausbildungsjahres seien immer noch Tausende Jugendliche im Osten ohne Ausbildungsplatz. Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn beschwört noch einmal das Ziel der Berliner Regierung, jedem Jugendlichen eine Lehrstelle zu besorgen. Ach ja, dann gibt's da noch die SPD-Fraktion im sächsischen Landtag - und die konterkariert mit grotesken Ansichten die Äußerungen der eigenen Genossen. Das Arbeitsamt Bautzen läßt nach Meinung der Sachsen-Sozis "die Lausitz ausbluten", so Fraktionssprecher Karl Nolle. Wie wird die Behörde zum Vampir? Indem sie Arbeitssuchende nach Bayern vermittelt. Die Sozialdemokraten im Freistaat leiden offenbar unter völligem Realitätsverlust. Die Aktion der Jobvermittler muss höchst willkommen sein in einer Region mit derart hoher Arbeitslosigkeit. Und die gibt es übrigens nicht nur im Osten, liebe SPD-Fraktion. Über die 5000 Mark Hilfsgeld, mit denen der Umzug erleichtert wird, würde sich etwa der Arbeitslose im Saarland oder Ruhrgebiet ebenso freuen, wenn er sie denn bekäme. Die Summe als "Kopfgeld" zu verunglimpfen, das kann nur Politikern einfallen, die ihren Arbeitsplatz sicher haben. Es ist die Wirtschaftslage, die Menschen in vielen Regionen dazu zwingt, die Suche nach Arbeit anderswo zu starten - und es ist Aufgabe des Arbeitsamtes, dabei zu helfen. Hut ab vor den cleveren Bautzenern, die sich dazu eine besondere Aktion ausgedacht haben.
Eine Strategie, um die aktuelle Situation für die Arbeitslosen im Osten mit anderen Mitteln zu verbessern, enthält uns die SPD dagegen vor. Soll das Arbeitsamt etwa die Mauer wieder aufbauen, um die Erwerbslosen daheim in die Arbeitslosigkeit zu zwingen? Karl Nolle befürchtet, die Jobvermittler könnten die Lausitz zu "einer Region ohne Perspektive machen", indem sie vielleicht 200 von 66 000 Arbeitslosen eine Tätigkeit in Bayern verschaffen. Wenn der Sprecher weiter mit solchen Tiraden auf Wählerfang geht, wird die Diagnose der Perspektivlosigkeit wohl eher für seine Partei zutreffen.
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(Anmerkung von Karl Nolle: Leider hat sich hier Peter Weißenberg in seinem Kommentar zu einem nicht recherchierten denunziatorischen Stil hinreissen lassen, schade, inhaltlich siehe Interview vom 6.9.00)