Freie Presse Chemnitz, 25.09.2000
Fast den Extremisten zugespielt ...
Seine Parlamentsanalyse brachte SPD-Politiker Karl Nolle viel Ärger ein
DRESDEN. Forschheit siegt nicht immer. Zumindest verlangt sie ein breites Kreuz. Über das verfügt
Karl Nolle. Die Prügel, die sein kritisches Resümee aus einem Jahr Landtagsarbeit auslöste, strapazierten arg die Standfestigkeit. Selbst in den eigenen Reihen geriet der Quersteinsteiger, der es gewagt hatte, eine einseitige Zusammensetzung des Parlaments zu beschreiben und die Machtlosigkeit gegenüber der Regierung zu beklagen, unter Beschuss.
Wie eine Bombe hatte es im Landtag eingeschlagen, als Nolle über die "Freie Presse" der Mehrheit seiner Kollegen bescheinigte, sich von der Wirklichkeit des beruflichen Lebens abgenabelt und stromlinienförmig auf das Erreichen der
Pensionsberechtigung konzentriert zu haben. Der Gipfel der Unverfrorenheit bescherte ihm sogar einen Missbilligungsantrag im Präsidium. "Sollte das Parlament nicht existieren, die Bevölkerung würde den Verlust kaum registrieren", hieß der getadelte Satz.
Für CDU-Chef Fritz Hähle überstieg der Frevel die Grenzen der Zumutbarkeit. Im Plenum beschuldigte er den ketzerischen SPD-Mann, mit solchen Äußerungen extremistischen Tendenzen Vorschub zu leisten. Mit Mühe, aber ohne innere Begeisterung, hatte SPD-Fraktionsvorsitzender Thomas Jurk die Missbilligung im Präsidium abbiegen können. Auch seine Fraktion, hin- und hergerissen zwischen dem Bemühen um Seriosität und öffentliche Wahrnehmung, hielt den Vorwurf der Nestbeschmutzung mühsam unter dem Deckel.
Dass Nolle innerhalb eines Jahres bekannter ist als andere Abgeordnete nach neun Jahren, mag die Wirkung seiner Kritik noch besser erklären. Der schwergewichtige Unternehmer sieht sich dennoch nicht an den Rand gedrängt. Schließlich sei es ihm nicht darum gegangen, die Existenzberechtigung des Landtages infrage, sondern dessen Zusammensetzung und weitgehende Ohnmacht zur Diskussion zu stellen. "Das Parlament sollte in seiner Vielfalt ein Spiegelbild der beruflichen Erfahrung der Bevölkerung sein, doch in Sachsen ist es nur ein Zerrbild." Die Reaktion auf seine Hinweise bestärkt Nolle in seiner Auffassung. "Wer sich getroffen fühlt, heult um so lauter auf."
Angst, überzogen zu haben und in vier Jahren bei der Kandidatenaufstellung nicht mehr den sicheren sechsten Listenplatz zu erhalten, will der aufmüpfige Druckereibesitzer nicht haben. "Wer die Unabhängigkeit eines Abgeordneten fordert, muss damit leben, dass er auch unbequeme Wahrheiten ausspricht." Der Ex-Hannoveraner, der in der früheren Heimat seine Zelte abbrach und nach der Wende in Dresden heimisch wurde, hält sich zugute, nicht nur den Platz des Wirtschaftsprechers in der SPD auszufüllen. Er will auch etwas von der Debattenkultur nach Sachsen mitgebracht haben, die in Westeuropa längst üblich sei.
Dass seine Art der Polemik nicht von allen als Kultur empfunden wird, stört Nolle wenig. Politik hat für ihn auch etwas mit Spaß zu tun - und mit Provozieren.
(von Hubert Kemper)