Sächsische Zeitung, 18.10.2001
"Der Mikrofonbeißer"
Der SPD-Landtagsabgeordnete und "Biedenkopf-Jäger" Karl Nolle gilt vielen als maßlos oder gar durchgedreht, doch auch Gegner bescheinigen ihm Wirkung
Als am 11. September gerade das World Trade Center zusammengestürzt war, geriet die Pressestelle der sächsischen SPD-Landtagsfraktion in Alarmstimmung. Weniger wegen Terroristen, sondern wegen Karl Nolle. Während alle Welt den Atem anhielt, schickte der Abgeordnete vierseitige Faxe an Redaktionen: 33 Fragen an die sächsische Staatsregierung zu Mietverträgen und einer "Schwarzen Kasse" bei Kurt und Ingrid Biedenkopf. "In dem Moment ein Unding", sagt ein SPD-Mann. Nicht mal der Hinweis, dass die Medien gerade anderes zu tun haben, konnte Nolle stoppen.
Er ist eben schwer zu bremsen. In der SPD-Fraktion sagen sie ihm häufiger: Karl, du darfst nicht in jedes Mikrofon beißen. Dann entgegnet Nolle: "Es ist aber unsere Aufgabe, in jedes Mikrofon zu beißen." Er beißt nicht nur, er klingelt auch - zum Beispiel Journalisten sonntags morgens aus dem Bett, um sie mit Hinweisen zu füttern. "Ich bin etwas verbissen, aber konsequent", sagt Nolle. "Meine Kampagne ist erst abgeschlossen, wenn er zurückgetreten ist."
Gemeint ist Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU). In Nolles Büro ist der Regierungschef ganz unten angesiedelt - in einer Wand aus vollgestopften Ablagefächern. Mit "Biko Anzeigen" ist eines der Fächer beschriftet. Eines weiter oben im Stapel heißt: "R. Hood". Dort hinein kommen Briefe und Postkarten von Leuten, die den selbst ernannten Robin Hood aus Dresden um Hilfe bitten; oft wegen Härtefällen bei Immobilien-Geschäften nach 1989. Im Fach landen aber vor allem auch sachdienliche Hinweise im Kampf gegen Sachsens Regierungschef, doch "von zehn Leuten, die sich bei mir melden, sind acht Spinner", sagt Nolle. Spinner und Robin Hood, hier liegt beides also nah zusammen. Wie bei Nolle selbst.
Ein Plumps auf die Modelleisenbahn
Er macht seit Monaten Schlagzeilen. Unermüdlich sägt der 56-Jährige an Biedenkopfs Sessel, seit er im Februar anfing, kleine Anfragen an die Staatsregierung zu stellen: Wie viel Miete zahlen die Biedenkopfs für ihre Dienstwohnung? Wie ist das mit der privaten Nutzung von Dienstwagen? Von Hubschraubern? Leibwächtern? Es war der Beginn jener "Putzfrauenaffäre", die das Land "so heftig erschütterte, als hätte sich Nolle auf Kurts Modelleisenbahnlandschaft plumpsen lassen", schrieb der "Spiegel" in Anspielung an Nolles Zweieinhalb-Zentner-Statur. Selten hat ein Einzelner in Sachsens Politik so viel Wirbel veranstaltet, zudem ein Sozialdemokrat. Wer ist dieser Mann, der sogar die Biedenkopfs dazu trieb, ihre Dienstwohnung in Dresdens Schevenstraße zu räumen?
Der damalige SPD-Landeschef Karl-Heinz Kunckel holte Nolle 1998 in sein Wahlkampfteam. Der Mann aus Hannover, der nach der Wende als Druckerei-Unternehmer nach Dresden kam und hier 60 Mitarbeiter beschäftigt, sollte in der Sachsen-SPD die Wirtschaftskompetenz aufpolieren. Als er 1999 in den Landtag kam, war bald klar: Kleinteilige Kärrnerarbeit in Fachausschüssen ist Nolles Sache nicht. Er wollte sich an etwas Großem abarbeiten. "Mich stört Biedenkopfs großbürgerliches, elitäres Gehabe", sagt Nolle. "Ich bin als konzilianter Mensch in den Landtag gekommen. Die Arroganz der Mehrheit und ihr höhnischer Umgang mit der Opposition haben mich radikalisiert."
Radikal ist Nolles politischer Stil, rüde und provokant. Nie Kammerkonzert, stets Big Band mit mehrfacher Paukenbesetzung. Die Sachsen bedauert er als "Versuchskaninchen für die vordemokratische Feudalmentalität eines kleinkarierten Regentenehepaares". Mitarbeiter des Ministerpräsidenten bezeichnet er als "Leibstandarte" - so hieß Adolf Hitlers Leibwache aus SS-Männern. Mag sein, dass er an wilde Zeiten bei den westdeutschen Jusos anknüpft, denen er 1963 als Elektromechniker-Lehrling beitrat, zusammen mit einem gewissen Gerhard Schröder, heute Bundeskanzler.
Für hiesige Parteikollegen war Nolle anfangs ein Kulturschock. Zu grell sein Ton, zu "unappetitlich" sein Leib- und Magenthema: Wer bezahlt was in der Schevenstraße? Zumal die Zehn-Prozent-SPD des langjährigen Parteichefs Kunckel nie einen harten Konfrontationskurs pflegte. "Königlich sächsische Sozialdemokraten", spottet Nolle. Auf die Frage nach echten Freunden in der Partei wird er einsilbig. Da ist wenig. Nolle ist Einzelkämpfer, Außenseiter. Nach seinen Beachtungserfolgen in der Biedenkopf-Affäre halten ihn Genossen zwar weiter für nervig und effekthascherisch - aber auch für effektiv. In der SPD, wo Nolle nun verdonnert wurde, sich häufiger mit Fraktionschef Thomas Jurk abzusprechen, heißt es: "Der Name Nolle zieht." Veranstaltungen mit dem "Biedenkopf-Jäger" hätten großen Zulauf. Nun ist mal ein sächsischer Sozialdemokrat öfter im Gespräch.
Der Druckerei-Unternehmer versteht es, ein riesiges Medien-Tohuwabohu zu veranstalten, weil er hartnäckig ist. Und technisch hochgerüstet. In seinem Handy steckt eine ausklappbare Tastatur, damit verschickt er Faxe an Redaktionen, selbst mitten aus dem Paunsdorf-Untersuchungsausschuss. Täglich verbringt er zwei, drei Stunden damit, E-Mails, Faxe und SMS an Journalisten zu senden oder seine Homepage mit politischen Pamphleten anzureichern. Stand gestern: 1 804 Datensätze. Ungebeten verbreitet er eine "kleine Statistik aus 2 Jahren Parlamentsarbeit". 147 Presseerklärungen! Bisweilen berauscht sich Nolle an seinem Bekanntheitsgrad im Freistaat, den er auswendig kennt: 43 Prozent. "Nach zwei Jahren!", frohlockt Nolle. Den Porsch von der PDS würden nur 38 Prozent kennen. "Nach elf Jahren!"
"Bescheidenheit ist seine Sache nicht", sagt die Dresdner SPD-Fraktionsgeschäftsführerin Renate Liepelt. Nolles Lebenslauf im Internet - ganze sechs Seiten - enthält den Eintrag: "10/2000 - 01/2001: Designierter SPD-Kandidat zur Oberbürgermeisterwahl Dresden". Designierter! So stand es auch in seinem Briefkopf, was Freund und Feind belustigte. Nolle war damals mit seinem Wunsch zur Kandidatur vorgeprescht und zog sich bald wieder aus dem Rennen. Umfragen sahen ihn chancenlos bei knapp zehn Prozent. Bereits 1999 hatte er den Einzug in den Dresdner Stadtrat verfehlt, da half auch kein Anfechten der Wahl.
Kindlicher Spaß an markigen Sprüchen
Nach Pleiten wie diesen hat Nolle nun eine politische Bühne gefunden, auf der er eine der Hauptrollen gibt. Die Dramaturgie ist einfach: Anfragen an die Staatsregierung folgen (nicht selten dürre) Antworten, daraus werden wieder Anfragen. Zwischendurch auch eine Anzeige gegen Sachsens Regierungschef wegen Untreue: Es geht um die kostenlose Bewachung von Biedenkopfs Ferienhaus am Chiemsee. Und dies alles begleitet Nolle mit deftigen Pressemitteilungen. Darin avanciert etwa Ingrid Biedenkopf zur "Königin der Schwarzen Kassen". Nolle denkt eben gern in Slogans. Mit fast kindlichem Stolz freut er sich über gelungene Kopfgeburten im stillen Kämmerlein. Die berühmteste lautet: "Wenn Sie wissen wollen, wo die Staatskanzlei ist, dann gehen sie immer den Bach runter." Eine Spur Spaß-Guerilla bei Nolle, der seit kurzem Dresdner "Ehren-Juso" ist.
"Verunglimpfungs-Beauftragter" und "Kampfwalze" der SPD nannte ihn CDU-Fraktionschef Fritz Hähle. Nach außen heißt es: Den nehmen wir nicht ernst. Intern ist es anders. "Ich gebe zu, wir haben ihn in seiner Hartnäckigkeit und Wirkung unterschätzt", sagt ein CDU-Präsidiumsmitglied über Biedenkopfs dickstes Problem. Christdemokraten werden zornesrot, wenn Nolle süffisant anmerkt, selbst bestens informierte CDU-Kreise hätten ihn gegen Biedenkopf munitioniert. Ein innerparteilicher Kritiker des Ministerpräsidenten meint: "Nicht alles, was Nolle sagt, ist völlig falsch."
"Nolle soll die Klappe halten"
In den vergangenen Tagen hat sich der Ton zwischen Nolle und Biedenkopf verschärft. Mit dem Vorwurf, die Biedenkopfs würden ihre Steuern nicht in Sachsen zahlen, habe Nolle "endgültig die Grenze überschritten", so Regierungssprecher Michael Sagurna. Er beobachtet bei Nolle einen "starken Hass" gegen Kurt und Ingrid Biedenkopf. Mehrere SPD-Spitzenpolitiker - darunter sogar den Bundeskanzler - hat Biedenkopf schon gebeten, Nolle zu mäßigen. Schröder beteuerte am Rande seiner Ost-Tour im August: "Wir haben Nolle gesagt, er soll die Klappe halten."
Genützt hat es wenig, wie auch alle anderen Stimmen, die mahnen: Karl, du schießt übers Ziel! Er schießt aus allen Rohren: Mietaffäre, Paunsdorf-Untersuchungsausschuss, dazwischen merkwürdige Andeutungen über die "nationalsozialistische Familientradition von Kurt und Ingrid Biedenkopf". Zudem hat er die Staatsregierung vor dem Sächsischen Verfassungsgerichtshof verklagt, weil diese seine Anfragen zur Mietaffäre nicht ausreichend beantwortet hätte. Darüber wird heute mündlich verhandelt. In Gedanken ist Nolle ganz bei den "Schwarzen Kassen" der Landesmutter. Wenn er darüber spricht, verengen sich seine Augenschlitze hinter der großen Brille noch mehr als sonst: "Das riecht nach einer Anzeige."
(von Stefan Schirmer)
Nolles Sprüche:
Über Biedenkopf: „Da fabuliert wieder Kurt Hans von der Marktwirtschaft.“
„Selbst eine Spitzenverkäuferin hat kein Recht auf einen Griff in die Ladenkasse.“
„Das bescheidene Leben des Kurt Biedenkopf – von der Sozialwohnungsmiete mit Armenküche-Benutzung zum Badeurlaub auf einem klapprigen Fischkutter.“
„Politik, die Menschen aus dem Land treibt, ist schlechte Politik.“
Zur Bahn: „Schneckenrabatt für den Osten.“
Im OB-Wahlkampf: „Alles Ostern, oder was? Berghofer soll den Dresdnern sagen, was er will und nicht Verstecken spielen.“
Im Landtag: „Ich weiß jetzt, Herr Kollege Lämmel, wie sie CDU-schwarz geworden sind, durch ständigen Schuss in den Ofen.“
Oder
„Halbe Redezeit, doppelte Intelligenz, Herr Lerow.“
Und bei einer Rede von Fritz Hähle (CDU): „Wolle ma se reinlasse? Tat tata wuff.“
www.karl-nolle.de