Sächsische Zeitung, 19.03.2002
Lieber ausgewandert als arbeitslos
Schritte gegen Abwanderung gefordert / Staatsregierung setzt auf Heimkehrer
DRESDEN. Am 18. April wird ein neuer Ministerpräsident gewählt. In einer Serie zeigt die SZ, welche heißen Eisen der Neue bis zur Landtagswahl 2004 anpacken muss. Zum Beispiel die Abwanderung: Immer mehr hochqualifizierte junge Sachsen verlassen den Freistaat.
Düstere Mienen, düstere Zahlen, Die SPD-Fraktion im sächsischen Landtag stellte gestern eine Bestandsaufnahme der Abwanderung vor. Drei Dutzend Tabellen und Grafiken, die bis ins Detail verraten, was ohnehin jeder weiß: Dem Freistaat gehen die Sachsen aus. Doch während die Opposition ein Gegensteuern fordert, bleibt die Staatsregierung gelassen.
Über eine halbe Million Einwohner hat Sachsen den Angaben nach seit 1989 verloren. Zurzeit sind es noch rund 4,4 Millionen. Nicht allein durch den Geburtenknick ist die Zahl der Sachsen kleiner geworden. 757 000 Menschen haben den Freistaat von 1991 bis 2000 verlassen, nur 694 000 sind gekommen.
Mittlerweile nimmt die Abwanderung einen immer höheren Stellenwert beim Rückgang der Bevölkerung ein. Seit 1998 steigt das Wanderungsdefizit. Im Jahr 2000 war der Bevölkerungsschwund etwa zu gleichen Teilen auf Geburtenknick wie auf Abwanderung zurückzuführen.
Wer hochqualifiziert, weiblich und jung ist sowie aus strukturschwachen Gebieten kommt, kehrt dem Freistaat statistisch gesehen besonders leicht den Rücken. Jeder 20. der 18- bis 25-Jährigen hat im Jahr 2000 die äußeren Landkreise verlassen. Sieben von zehn dieser jungen Abwanderer zieht es in die alten Bundesländer; nur etwa zwei von zehn gehen in die sächsischen Großstädte.
„Intelligenz statt Beton fördern“
Die SPD sieht aufgrund ihrer Analyse dringenden Handlungsbedarf. Zum einen sollen strukturschwache Gebiete wie die Lausitz stärker gefördert werden. Das tut die Staatsregierung zwar, aber nach Meinung der Sozialdemokraten nicht richtig. Innovationen müssten vor Infrastruktur kommen. „Intelligenz statt Beton fördern“, sagt
Karl Nolle, wirtschaftspolitischer Sprecher.
Zum anderen sollen aber auch die Großstädte gestärkt werden. Wenn junge Leute schon zu Scharen die äußeren Regionen des Freistaats verlassen, sollen sie in den sächsischen Ballungszentren eine echte Alternative zu den Altbundesländern sehen.
Die PDS begrüßt die Initiative der SPD – nicht ohne den Hinweis freilich, sie habe sich bereits seit Jahren gegen die „Abwanderungswelle“ engagiert. Denn außer „ein paar bedauernden Worten und Briefe an Abwanderer“ sei von Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) nichts gegen den Bevölkerungsschwund zu hören gewesen.
In der Tat setzt sich das Wirtschaftsministerium zwar für die Entwicklung des Freistaats ein, die Abwanderung wird aber eher als unabwendbare Nebenerscheinung wahrgenommen. „Lieber ein ausgewanderter Jugendlicher als ein arbeitsloser Jugendlicher“, heißt es aus dem Ressort von Wirtschaftsminister Kajo Schommer (CDU). „Man kann einem jungen Menschen nicht sagen, er soll jahrelang arbeitslos bleiben, bis er vielleicht wieder gebraucht wird.“
Statt die jungen Leute mit aller Macht im Land zu halten, setzt die Staatsregierung lieber auf Kontaktpflege: Jobbörsen und Internet-Seiten sollen für die Abgewanderten eine Verbindung zur einstigen Heimat sein. So falle ihnen die Rückkehr nach Sachsen leichter, wenn in einigen Jahren wieder Fachkräfte gebraucht werden, spekuliert das Wirtschaftsministerium.
„Diese Denkweise ist zynisch gegenüber denen, die wegen der wirtschaftlichen Lage zum Abwandern gezwungen sind“, sagt PDS-Politiker Hahn. „Es ist außerdem ein abwegiger Gedanke, dass die jungen Menschen einfach zurückkommen, wenn sie anderswo eine Familie gegründet und neue Freunde gefunden haben.“
(Andreas Novak)