AP-Presseagentur, 28.11.2000
+++Sebnitzer über Vorwürfe im Fall Joseph empört
Die ganze Geschichte ist hochgekocht worden»
Sebnitz/Dresden (AP) «Die ganze Geschichte ist hochgekocht worden», empört sich die Kassiererin einer Tankstelle in Sebnitz. Gemeint ist damit der Vorwurf, der sechs Jahre alte Joseph, Sohn einer deutschen Mutter und eines irakischen Vaters, sei vor drei Jahren in einem Freibad der sächsischen Kleinstadt von Neonazis gequält und ertränkt worden.
Nachdem die Staatsanwaltschaft Dresden drei wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft genommene Personen wieder auf freien Fuß setzen und das Ermittlungsverfahren gegen einen der drei wegen eines «wasserdichten» Alibis einstellen musste, bekommt der Fall eine andere Richtung. Wenn es sich herausstellen sollte, dass nichts dran sei, «bekommen die Rechten doch wieder Oberwasser», prophezeit die Kassiererin.
In Sebnitz herrscht seit Bekanntwerden des Falles ein geistiger Ausnahmezustand. «Die haben hier alle eine totale Vollmeise», urteilte ein Journalist nach zweitägiger Recherche am Ort. Dann schwächte er seine Aussage ab und sprach von Verfolgungswahn.
Die sonst beschauliche 10.200-Einwohner-Stadt an der tschechischen Grenze ist nicht wiederzuerkennen. Allerorten sieht man Polizei, am Stadteingang gibt es Kontrollen, das Haus der Eltern des Jungen ist mit Gittern abgeriegelt. Wie sehr die Stadt in diesen Tagen am Pranger steht, zeigt ein Blick in ihr Internet-»Gästebuch». Beschimpfungen übelster Art und längst überwunden geglaubte West-Ost-Ressentiments laufen dort auf. «Man sollte die Mauer wieder aufbauen», schrieb einer. Manche bitten, das «Gästebuch» lieber zu schließen.
Es wird immer unwahrscheinlicher, dass Neonazis den Ertrinkungstod des Jungen herbeigeführt haben. Die Staatsanwaltschaft sieht zurzeit keine Anhaltspunkte dafür.
Landespolitik wie gelähmt
Die Landespolitik zeigt sich angesichts des Falles wie gelähmt. Aus der CDU-Landtagsfraktion kam nichts Offizielles. Nur auf Anfrage wurde mitgeteilt, dass man den Tod von Joseph bedauere. Die PDS will einen Berichtsantrag einbringen. Am weitesten wagte sich der SPD-Landtagsabgeordnete
Karl Nolle vor, indem er Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) die nationalsozialistische Vergangenheit seiner Familie vorhielt und ihm vorwarf, das Thema herunterzuspielen.
Das wiederum sorgte in der SPD-Fraktion für Entsetzen und Kopfschütteln. Ein offizielles Abrücken der Fraktion gab es nicht, aber auf Anfrage teilte der Sprecher mit, dass man sich von dieser Einzelmeinung distanziere. Biedenkopf bemühte sich am Dienstag in der Staatskanzlei vor Journalisten darum, den Ruf Sachsens und Ostdeutschlands wieder aufzubessern. «Der Schaden wird täglich größer», klagte er. Er ließ den Verdacht anklingen, ein elektronisches Medium habe Leute dafür bezahlt, dass sie vor dem Haus der Familie grölten.
In der Stadt findet man indes viele, die aus ihrer Sympathie für die rechtsradikale NPD keinen Hehl machen. Das Argument ist, wie auch anderswo in Ostdeutschland: «Ausländer nehmen uns die Arbeit weg». (von: Frank Ellmers)
Kommentar:
Ich verweise auf die AP-Agenturmeldung vom 24.11.00, 18:18 Uhr, in der mein Life-Interview mit Nachrichtenradio MDR info (vom 24.11.00 12:03 Uhr) richtig, wenn auch verkürzt, wiedergegeben wird, sowie auf den Mitschnitt des Interviews vom 24.11.00 hier auf der Homepage.
KARL NOLLE