Karl Nolle, MdL

ND Neues Deutschland, 22.09.2003

Warten auf Tiefensee

Keine Erlösung für die sächsische SPD beim Landesparteitag in Leipzig
 
Fast genau ein Jahr vor der sächsischen Landtagswahl änderten am Wochenende zwei Parteitage wenig an den Verhältnissen. Die CDU hat ihren Spitzenmann schon, die SPD wirbt um Wolfgang Tiefensee, der sich wieder nicht entschied.

SPD-Haudrauf Karl Nolle, einer von lediglich zwei Rednern zur Aussprache, bemühte ungewohnt diplomatisch eine Anekdote um den Philosophen Hegel. Einst ließ der eine Vorlesung ausfallen, weil er mit dem Nachdenken noch nicht fertig sei. »Wir hoffen nur, dass das Richtige dabei herauskommt«, adressierte Nolle seinen Wunsch unmissverständlich an Wolfgang Tiefensee.

Leipzigs Oberbürgermeister aber war nicht zum Landesparteitag in seiner Heimatstadt gekommen, um die sächsische SPD mit der Bekanntgabe seiner Spitzenkandidatur bei der Landtagswahl im Herbst des nächsten Jahres zu erlösen. Wer solches erhofft hatte, und das dürften wohl alle Delegierten des außerordentlichen Parteitages gewesen sein, »den muss ich leider enttäuschen«, sagte Tiefensee.

Und so sprach er denn als Hauptredner und als Präsident des Städtenetzwerks »Eurocities« vor allem über die europäische Einigung. Dieses Thema beherrschte einschließlich der Delegiertenwahl zur Europawahl im nächsten Jahr zwar die offizielle Bühne. Wie in einem Schattenspiel aber lief parallel dazu die eigentlich bewegende Debatte ab – über den Zustand der sächsischen SPD einschließlich der Personalfragen, und in zweiter Linie die Positionierung zum bevorstehenden Bundesparteitag im November, für den durchaus kritische Anträge vorbereitet wurden.

Die jüngste Emnid-Umfrage bescheinigte der Sachsen-SPD ganze 14 Prozent Wählerresonanz. Wenn die sächsischen Sozialdemokraten in Leipzig tagen, wählen sie zwar beharrlich das »Renaissance-Hotel«. Allein, eine Wiederauferstehung ist von diesem Ort noch nicht ausgegangen. Was Wunder, wenn die Sehnsucht nach dem Strahlemann, der das Wahlergebnis nach Meinung der Landesvorsitzenden Constanze Krehl gleich auf »30 Prozent plus x« hochschnellen ließe, ins Irrationale wächst. Einen Sympathieträger wie Tiefensee habe man lange nicht mehr gehabt, hörte man einerseits von Delegierten, während zugleich der vermeintliche Erlöser am Rednerpult der totalen Personalisierung eine Absage erteilt: »Politik darf sich nicht in Personalplanung erschöpfen!«

Die Regie des Parteitages war so angelegt, dass sich Tiefensee noch einmal in die Herzen seiner Genossen reden musste. Er hat diese Offerte nicht ausgeschlagen und erklärte die Sozialdemokratie geradezu zur Urmutter allen Fortschritts in Deutschland, teilte aber auch Kritik an einige nicht namentlich genannte Bundespolitiker aus den eigenen Reihen aus, »die mit dem Hintern einreißen, was wir mit den Händen aufgebaut haben«. In Leipzig reißt Tiefensee angesichts des Finanzdesasters seiner Stadt gerade die Kinderbetreuung ein. Aber Olympia 2012 soll alles richten. So wie man von Tiefensee die Rettung der Landes-SPD erhofft.

Nach einem Beitrag der »Leipziger Volkszeitung« soll der Oberbürgermeister unter bestimmten Bedingungen zu einer Spitzenkandidatur bereit sein. Die Bekanntgabe frühestens im nächsten Frühjahr und ein fairer, sachbezogener Wahlkampf sollen dazu gehören. »Zu lange am spitzen Bleistift gekaut«, kommentierte Tiefensee den Artikel, aber Insider bestätigen den Trend. »Macht er es doch nicht, hat man alle anderen Kandidaten bereits selbst als zweitklassig abgestempelt«, hält der ehemalige Leipziger Universitätsrektor Cornelius Weiss die ausschließliche Fixierung auf Tiefensee für einen Fehler.

Nebenan in Grimma wurde Ministerpräsident Georg Milbradt mit fast 90 Prozent der Stimmen seiner CDU-Delegierten als Landesvorsitzender wiedergewählt und damit faktisch schon zum Spitzenkandidaten nominiert. Noch vor zwei Jahren musste er sich – gegen den Willen von Kurt Biedenkopf – in einer Kampfabstimmung gegen Umweltminister Steffen Flath durchsetzen. Er glaube nicht, so Milbradt nach seiner Wahl am Sonnabend, dass ein Tiefensee die SPD aus dem Tal ziehen kann. Die Frage ist, warum man sich überhaupt um den Posten reißen sollte. Ab 2007 sinken die Solidarpaktzuweisungen planmäßig, und alle Ost-Ministerpräsidenten werden in der nächsten Legislatur schmerzhafte Schrumpfungsprozesse zu verwalten haben.
(Von Michael Bartsch)

Karl Nolle im Webseitentest
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