Sächsische Zeitung, 25.11.2000
+++Sächsische Behörden scharf kritisiert
Kriminologen werfen Unfähigkeit und Desinteresse vor
DRESDEN. Das mögliche Verbrechen an dem sechsjährigen Joseph in einem Schwimmbad in Sebnitz hat Empörung über die Arbeit von Justiz und Polizei ausgelöst. Politiker forderten umfassende Aufklärung.
„Ich erwarte, dass sorgfältig und schnell Licht in das Dunkel gebracht wird und dass jedem Hinweis nachgegangen wird“, sagte Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU). Er habe Justiz- und Innenministerium angewiesen, die Umstände des Todes des Jungen aufzuklären. „Die Vorstellung, dass in einem Schwimmbad ein kleiner Junge von Jugendlichen umgebracht worden sein könnte, ohne dass irgendein Mensch dagegen eingeschritten wäre, ist entsetzlich und grauenhaft“, sagte er bei einem Besuch in Sebnitz.
Auch die Bundesregierung äußerte sich bestürzt. Wenn die Behörden fahrlässig gehandelt haben, müsse das Konsequenzen haben, sagte Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye.
Zwei Männer und eine Frau sitzen inzwischen wegen Mordverdachts in U-Haft. Ein rechtsradikaler Hintergrund konnte bislang nicht nachgewiesen werden. Der Vater Joseph sagte im Gespräch mit Biedenkopf, er halte ausländerfeindliche Hintergrundsätze für zweitrangig.
Experten des Kriminologischen Institutes Hannover warfen der Polizei Versäumnisse vor, die nur „mit Desinteresse und Unprofessionalität“ zu erklären seien. Innenminister Klaus Hardraht (CDU) schloss disziplinarische Konsequenzen nicht aus.
Die SPD-Fraktion kritisierte, Justizministerium und Generalstaatsanwalt seien untätig geblieben. MdL
Karl Nolle sprach von Verharmlosung und verstieg sich zu der Äußerung, dies habe hoffentlich nichts mit der NS-Vergangenheit von Biedenkopfs Familie zu tun. (dpa/SZ/lot)
Kommentar:
Ich verweise auf die AP-Agenturmeldung vom 24.11.00, 18:18 Uhr, in der mein Life-Interview mit Nachrichtenradio MDR info (vom 24.11.00 12:03 Uhr) richtig, wenn auch verkürzt, wiedergegeben wird, sowie auf den Mitschnitt des Interviews vom 24.11.00 hier auf der Homepage.
KARL NOLLE
Sächsiche Zeitung
Kommentar von Christian Striefler
Sebnitz, unvorstellbar ...
Polizei und Justiz genießen in Sachsen hohes Ansehen. Zu Recht. Jedenfalls bis vor zwei Tagen. Seidem hören wir Vorgänge aus Sebnitz, die so ungeheuerlich sind, dass sie unser Vorstellungsvermögen überschreiten. Das mühsam aufgebaute Vertrauen in den Rechtsstaat droht in Wanken zu geraten.
Die Polizei solle Ermittlungen beim Tod des sechsjährigen Joseph eingestellt haben, obwohl es noch Zweifel über die Ursache gegeben hat. Dem späteren Drängen der Mutter auf Wiederaufnahme gab man lange nicht nach. Hinweisen im Obduktionsprotokoll, die für einen gewaltsamen Tod sprachen, nahm die Staatsanwaltschaft offenbar nicht ernst.
Ministerpräsident Kurt Biedenkopf hat Innen- und Justizministerium anweisen müssen, die Vorgänge aufzuklären. Dabei ist das eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Die beiden Minister halten sich zurück. Seit Wochen waren die Ermittlungen nach den Aktivitäten der Mutter des toten Jungen zwar wieder aufgenommen. Doch die interne Prüfung, wo Polizei und Staatsanwaltschaft versagt haben könnten, setzt erst jetzt ein – nach Presseberichten. Dass dafür nur einfache Beamte zur Verantwortung gezogen werden, ist wohl schon jetzt auszuschließen. Biedenkopf wird klären müssen, an welcher Stelle politische Verantwortung zu übernehmen ist – und warum. Anders ist das Vertrauen in Polizei und Justiz nicht wieder herzustellen.
Sollte sich zudem heraus stellen, dass die Täter rechtsextremistische Motive hatte, dann ist allen Bemühungen im Kampf gegen rechte Gewalt ein schwerer Schlag versetzt, sind alle entsprechenden Erklärungen zu Worthülsen degradiert worden. Das darf sich die überwältigende Mehrheit demokratisch gesinnter Bürger von niemandem bieten lassen.
(Christian Striefler)