Sächsische Zeitung Görlitz, 12.02.2004
Trotz Alter nicht chancenlos
SPD macht Strukturkrise deutlich und will damit aufrütteln
Die Jungen gehen, die Alten kommen langsam zurück. Görlitz hat in den letzten zwölf Jahren fast ein Viertel der Bevölkerung verloren.
Karl Nolle, wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, sieht in der Abwanderung eine Chance für Unternehmen.
Neu ist es für die Görlitzer nun wirklich nicht, dass die Einwohnerzahl in ihrer Stadt sinkt und die Bevölkerung immer älter wird. Aber wie soll gerade in der Abwanderung der Menschen eine Chance für die Unternehmen in der Region liegen? Das immerhin behauptet Karl Nolle, wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion. Seit zwei Jahren stellt er sachsenweit seine Überlegungen vor.
Am Dienstagabend diskutierte er im Hotel Mercure gemeinsam mit Gabriele Köster vom Statistischen Landesamt Sachsen und Ordnungsbürgermeister Stefan Holthaus (SPD). Das Interesse war groß. Die Stühle reichten kaum.
Um es vorwegzunehmen: „Die Chance liegt darin, dass wir Lösungen finden müssen“, sagte Nolle. Es sei also jetzt die allerhöchste Zeit, umzudenken, denn die Zahlen und Prognosen über die Bevölkerungsentwicklung seien erschreckend. Um aufzuhorchen, die Lage zu erkennen, müssten alle über die Entwicklungen informiert werden. Deswegen präsentierte Köster den Bürgern erst einmal viele Zahlen.
Lösungen müssen erst gefunden werden
Die Einwohnerzahl Sachsens ist in den letzten zwölf Jahren um mehr als eine halbe Million gesunken. In Görlitz sei es noch dramatischer, denn seit 1990 seien etwa 19 500 Menschen gegangen, das sind 24,8 Prozent. „Bis zum Jahr 2020 wird fast ein Drittel der Menschen im erwerbsfähigen Alter wegziehen“, sagte Köster. Die Stadt wird immer älter. Während heute 31 Prozent der Einwohner über 60 Jahre alt sind, werden es gemäß der Prognose im Jahr 2020 bereits 40,2 Prozent sein. Die Zahl der Jüngeren und Erwerbstätigen gehe zurück.
Köster dazu: „Die Lebenserwartung steigt. Es wird zu einer galoppierenden Alterung der Bevölkerung in Görlitz und in Sachsen kommen.“ Nicht zuletzt auch deshalb, weil immer mehr Menschen im Rentenalter nach Görlitz zurückkommen. Sie bringen Kaufkraft in die Stadt und nutzen Dienstleistungen. Gemäß der Prognose wird auch der Bedarf an Pflegepersonal steigen, denn bis zum Jahr 2020 soll die Zahl der ab 65-Jährigen um nahezu 60 Prozent zunehmen. Allerdings kann dies alles die Abwanderung nicht ausgleichen.
„Und was wird dafür getan, dass die jungen Leute nicht weggehen?“, fragte ein Bürger. Ein anderer sagte, dass er bei einer Arbeitslosenquote von 24 Prozent den Glauben an die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt verloren habe.
Ordnungsbürgermeister Holthaus verwies auf die Bewerbung als Kulturhauptstadt, den „intensiven Kampf“ um 27 Millionen Euro Fördermittel für den Brückenpark, den Berzdorfer See als kommendes Naherholungsgebiet, und er verwies darauf, dass die Stadtverwaltung mehr Ausbildungsplätze stellt als noch 1991. Holthaus sprach auch über das Vorhaben Wohnungsrückbau. „Von 40 000 Wohnungen stehen 10 000 leer. 2015 werden es etwa 15 000 sein“, sagte er. Mit am schlimmsten sehe es in Königshufen aus, dort würden 2015 nur noch 40 Prozent der jetzigen Bevölkerung leben.
Die Bevölkerungszahl sinkt, Görlitz verändert sich. Doch was soll dafür getan werden, damit Unternehmen in die Region kommen, damit ansässige nicht Konkurs gehen? „Bessere Finanzierung“, sagte Nolle. Das Land Sachsen solle eine öffentliche Mittelstandsbank gründen, mit der die Unternehmen gefördert werden. Gespräche gebe es bereits. Außerdem müssten die Behördenwege verkürzt werden. Die Qualität der Bildung müsse verbessert werden. Schüler müssen mehr bei der Berufsfindung unterstützt werden.
Die Görlitzer Gleichstellungsbeauftragte Kerstin Riehle schlug vor, wieder Patenschaften einzuführen, damit die Schüler zeitig mit Betrieben in Kontakt kämen. Es besteht, so Nolle, schon jetzt ein Fachkräftemangel. Da sich die Zahl der 15-Jährigen bis 2007 halbiert haben und es immer mehr Rentner geben wird, fehlen letztlich auch Arbeitskräfte. Um diese nach Görlitz zu locken, muss jedoch doch noch einiges mehr getan werden. 99 Prozent der Unternehmen in Sachsen sind mittelständisch, so Nolle. Also müsse auch hier und nicht nur bei den „großen Leuchttürmen wie AMD oder Infineon“ angesetzt werden.
Das „müssen“ jedoch reichte vielen Anwesenden nicht mehr aus. Sie waren unzufrieden, denn sie hofften, endlich konkrete Lösungen zu bekommen. Doch die müssen ja erst gefunden werden.
(von Katja Pautz)