Sächsische Zeitung, 19.12.2000
Endlich eine eigene Bügelfalte
Ein Verein unterstützt sächsische Auszubildende während ihrer Lehrzeit in Münche
MÜNCHEN/BAUTZEN. Robert Herbrig misst Entfernungen in Zigarettenlängen. Von seiner Wohnung bis zur U-Bahn-Station braucht er genau drei. Das ist ziemlich weit für den 18-Jährigen aus Hoyerswerda, der seit August in München lebt und jeden Morgen mit der U-Bahn zur Arbeit fährt. Dass er in der bayerischen Landeshauptstadt eine Ausbildungsstelle gefunden hat, verdankt Robert Herbrig einer Initiative des Arbeitsamtes in Bautzen.
Im Vorstellungsgespräch überzeugen
Unzählige Bewerbungen hat er geschrieben und an Unternehmen in Hoyerswerda und Umgebung verschickt. Erfolglos. Dann hörte er von einer Zusammenarbeit des Arbeitsamtes Bautzen mit dem in München. Für zehn Tage fuhr er im Juli mit 23 anderen Ausbildungssuchenden dorthin. Bei einer Stadtrallye lernte er, sich in München zurechtzufinden, ließ sich zeigen, welche Freizeitmöglichkeiten es gibt und wo Arbeitsamt und Behörden sind. Die meiste Zeit aber verbrachte er mit der Stellensuche. Seine Unterlagen wurden aufpoliert. Er lernte, wie man sich im Internet über mögliche Arbeitgeber informiert, wie man per Telefon den ersten Kontakt herstellt und im Vorstellungsgespräch überzeugt. Es hat geklappt. Jetzt arbeitet Robert als Kfz-Mechaniker-Azubi beim Autohaus Mahag in München. Ähnlich erging es anderen Teilnehmern. Von den 24 jungen Menschen haben zwölf ein Angebot in München bekommen. Neun haben es angenommen und werden auch weiterhin vom Euro-Trainings-Centre e.V. (ETC) betreut. Dafür erhielt der Verein knapp 35 000 Mark vom Arbeitsamt Bautzen. Viel Geld, so scheint es. "Wenn aber neun junge Arbeitnehmer in Ausbildung und Arbeit gebracht werden und drei Monate später in alle Sozialversicherungen einzahlen, lohnt sich die Investition", meint Helmut Schippel vom Arbeitsamt. In München bekommt laut Statistik jeder Ausbildungssuchende zwei Lehrstellen angeboten. "Die Arbeitgeber sind auf junge Leute aus anderen Bundesländern angewiesen", sagt Runa Straßburg, Sprecherin des dortigen Arbeitsamtes. Davon können Schulabgänger in Sachsen nur träumen. Allein im Raum Bautzen konkurrieren statistisch gesehen vier Schulabgänger um einen einzigen Ausbildungsplatz.
Ein neues Leben in einer fremden Stadt
"Natürlich bekommt man in München eine Stelle", sagt Sabine Loibl-Gänsbacher vom ETC. Das sei nicht das Problem. "Aber herkommen, anfangen, eine Wohnung finden und die Probezeit bestehen - das ist die Schwierigkeit." Vielen fällt es nicht leicht, Familie und Freunde zu verlassen und sich in einer fremden Stadt ein neues Leben aufzubauen. Das fängt bei der Wohnungssuche an. Katrin Herrmann aus Bautzen hatte mehr als zehn Besichtigungen: "Alles Absagen." Und Wohnheime sind in der Regel bereits sechs Monate im Voraus ausgebucht. Mit Hilfe des ETC haben schließlich alle neun Azubis etwas gefunden, das für sie erschwinglich ist. Etwa 700 Mark netto verdienen die sächsischen Azubis in München. Doch allein die Wohnung kostet schon mehr als 400 Mark. Katharina Matthes aus Ralbitz wird deshalb noch von ihren Eltern unterstützt. Sie hat wie die anderen auch beim Arbeitsamt außerdem Berufsausbildungsbeihilfe beantragt. "Damit sind sie ungefähr den Jugendlichen gleichgestellt, die in München leben", sagt Sabine Loibl-Gänsbacher. Mehr Geld als ihre Münchener Altersgenossen geben die Azubis aus Sachsen für Telefonate aus. Robert Herbrig spricht schon mal drei Stunden mit seiner Freundin in Hoyerswerda, wenn er Heimweh hat. "In München gibt es zigtausend Menschen und keinen kennt man. Zu Hause gehe ich aus der Tür und kenne jeden", sagt er. Und Jana Franzke aus Rothenburg, der ein Arbeitgeber in der Heimat sagte, ihre Noten seien zu gut für die Stelle, ruft ihre Eltern an, wenn sie alles hinschmeißen und zurück nach Hause will. "Meine Mutter sagt mir dann, ich soll durchhalten."
Loibl-Gänsbacher helfen bei der Suche nach einem Arzt, bei Behördengängen, bei der Beschaffung von Möbeln und sprechen Mut zu. "Es ist eine große Umstellung, ohne die Eltern zu leben", sagt Robert. "Wenn ich früher von der Schule kam, stand das Essen auf dem Tisch. Jetzt muss ich selbst kochen." Dafür sei er jetzt unabhängiger und habe seine Ruhe. Christoph Schiekel aus Maltitz sieht es ganz praktisch: "Jetzt kriege ich in meine Hose auch eine Bügelfalte rein." Die braucht er bei seiner Arbeit als Koch. Doch Zeit, ihre neu gewonnene Freiheit auszunutzen, haben die Jugendlichen nicht. "Der Job ist so anstrengend, dass man in seiner Freizeit nur schläft", erzählt Christoph. Für die Betreuung der Lehrlinge aus Sachsen erhält ETC für sieben Monate 300 Mark pro Teilnehmer und Monat. Was dann passiert, ist noch offen. "Die Jugendlichen brauchen weitere Betreuung", weiß Sabine Loibl-Gänsbacher. "Wir müssen jetzt ein langfristiges Konzept erstellen."
Jugendlichen helfen, Arbeit zu finden
Diese Art der Lehrstellenvermittlung trifft nicht nur auf Zustimmung. Der SPD-Landtagsabgeordnete
Karl Nolle sprach bei einer ähnlichen Initiative von einer "Bankrott-Erklärung der Wirtschaftspolitik" und wetterte, durch eine gezielte Abwerbung blute die Lausitz aus und werde zu einer Region ohne Perspektive. "Wir wollen keine Elite aus Sachsen abziehen", erwidert darauf jedoch Sabine Loibl-Gänsbacher, "sondern Jugendlichen helfen, Arbeit zu finden". Robert Herbrig hat gerade seine Probezeit überstanden. "Meine Arbeit gefällt mir und das ist das Wichtigste", sagt er. Informationen zur Ausbildung in München gibt es unter: www.bbinet.de
(von Claudia Schade)