Tagesspiegel, 12.07.2004
„100000 Menschen haben keine Chance“
Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck über das, was der Osten braucht
Herr Platzeck, sehen Sie sich als Drückeberger – wie Ihnen Otto Schily und Wolfgang Clement im Streit um die Arbeitsmarktreformen vorgeworfen haben sollen?
Nee, in keinster Weise. Was da aus den Gesprächen der Klausur in Neuhardenberg kolportiert wird, ist so auch nicht gesagt worden. Wir haben ernste, der Situation angemessene Gespräche geführt. Und natürlich ging es auch um die Wirkung von Hartz IV im Osten. Es war eine sinnvolle Debatte, und ich bin froh, dass sie am Montagabend fortgeführt wird, wenn Kanzler Schröder die ostdeutschen Ministerpräsidenten trifft.
War es verantwortungslos, dass die Ost- Länder der Umsetzung von Hartz IV die Zustimmung verweigert haben?
Ich habe auf das Schicksal Brandenburgs meinen Eid geleistet. Dafür trage ich Reformen mit, auch gegen Widerstände. Bei dem speziellen Thema Hartz IV schlägt indes die Spezifik des Ostens durch. Wir brauchen flankierend eine besondere Anstrengung für die Menschen, die über ein Jahr arbeitslos sind. Davon haben wir weit über 100 000 im Lande. Die haben auch bei größter Flexibilität im Moment keine Chance auf dem Arbeitsmarkt – das ist der springende Punkt, über den ich mit Wolfgang Clement nicht völlig einig bin und für dessen Beachtung ich kämpfe.
Wieso hilft Hartz IV da nicht?
Es wird gefordert, dass jeder flexibel ist und die Arbeit da sucht, wo sie ist. So gut, so schön, so schwierig. Unsere Jüngeren machen das zu Zehntausenden. Sie verlassen das Land, gehen ins Schwäbische, ins Bayerische oder gar ins Ausland. Das ist eine schwere Last für uns, weil sie ihre hier bezahlte Ausbildung mitnehmen und die demographische Entwicklung verschärfen. Mir geht es jetzt um die Menschen, die 50, die 52, die 55 sind. In unzähligen Gesprächen sagen die mir, Herr Platzeck, selbst wenn wir den Koffer packen, mit unseren 55 Jahren, und nach Stuttgart oder München gehen, uns nimmt ja da auch niemand mehr. Diese Erfahrung haben im Osten viele, und der muss man Rechnung tragen.
Schröder hat in Neuhardenberg hervorgehoben, dass es bei Hartz IV im Kern um die bessere Job-Vermittlung geht. Da bringt Hartz IV in Ostdeutschland kaum etwas.
Die Wahrheit liegt, wie so oft, in der Mitte. Ich bestreite nicht, dass wir auch für den Osten eine florierende Wirtschaft und bessere Vermittlung in Gesamtdeutschland brauchen. Alles, was den Arbeitsmarkt belebt, ist für Gesamtdeutschland und damit auch für den Osten gut. Es muss mir keiner vorhalten, dass wir auch weiterhin Transferleistungen in Empfang nehmen. Ich weiß um die große solidarische Leistung. Aber für die Regionen mit speziellen Problemen muss es auch spezielle Reaktionen geben. Und die sind mir nicht ausgeprägt genug.
Was erwarten Sie vom Kanzler noch?
Was den ersten Arbeitsmarkt angeht, muss alles angeschoben werden, was möglich ist. Und das hat der Kanzler deutlich gesagt.
Wie soll der zweite Arbeitsmarkt künftig aussehen?
Wir, Kommunen, Land, Bund, gesellschaftliche Kräfte, müssen gemeinsam dem zweiten Arbeitsmarkt wieder Impulse geben. Ich weiß, dass das nicht up to date ist, dass das nicht gern gehört wird. Trotzdem hat niemand einen besseren Vorschlag, wenn es darum geht, Menschen in Würde am sozialen Leben teilhaben zu lassen.
Hilft Hartz IV der PDS?
Die Opposition hat es in schwierigen gesellschaftlichen Umbruchphasen immer leichter. Es kommt jetzt sehr darauf an, wie klar, deutlich und offen wir uns für die Interessen der Menschen bei uns einsetzen. Wenn wir das nicht tun, kann es ein Wiederbelebungsprogramm für die PDS werden. Dieser Gefahr müssen wir sinnvoll begegnen.
Schröder wollte Sie ja mal ins Bundeskabinett holen. Wie hat Ihnen denn das Test-Sitzen in Neuhardenberg gefallen?
Ich bin ja von Natur aus ein zurückhaltender Mensch. Deshalb gefällt es mir, wenn man nicht nach jeder Klausur oder Sitzung Riesen-Ankündigungen macht. Ich habe in Neuhardenberg erlebt, dass konkret und gut an der Umsetzung von Reformen gearbeitet wird. Es war ein interessantes, ein gutes Erlebnis.
Das Gespräch führte Matthias Meisner.