Leipzigs Neue, Eine Linke Zweiwochenzeitung, 12. Jahrgang, Nr 15, 23.07.2004
Ruiniert der Solidarpakt den Westen ? Podiumsdiskussion in Dresden zum 98. Geburtstag von Herbert Wehner
Kommentierender Bericht von Prof. Horst Schneider
Ist die deutsche Einheit zu einer Geldfrage geworden?" Diese Frage stellte Jürgen Schmude (Ende der siebziger Jahre Bildungs- und Anfang der achtziger Jahre Justizminister in der Regierung Helmut Schmidts) als Moderator am Anfang einer Podiumsdiskussion am 11. Juli 2004 in Dresden. Das Gespräch fand anlässlich des 98. Geburtstages des Dresdners Herbert Wehner im Ballsaal des Orpheum statt, einem traditionsreichen Ort der Dresdner Arbeiterbewegung. Das Podium war mit Franz Müntefering, Dr. Hans Jochen Vogel (1990 Vorsitzender der SPD Bundestagsfraktion), dem DGB-Funktionär Hanjo Lucassen und dem sächsischen Landesbischof i. R. Johannes Hempel (1971 bis 1994) hochkarätig besetzt.
Unter den etwa 150 anwesenden SPD- Funktionären tummelten sich Prominente wie Greta Wehner, die SPD-Landtagsabgeordneten Jurk, Kunckel und
Nolle und die Bundestagsabgeordnete Renate Jäger. Das Eingangs-Statement Jürgen Schmude konzentrierte sich auf die Frage, was den Westdeutschen die „Osthilfe" von 100 Milliarden Euro bedeutet und wie das Kommunen - Gelsenkirchen als Beispiel - schmerzt. Das Problem für ihn war also: Ruiniert der „Solidarpakt" den Westen? Müntefering schloss sich mit langen Ausführungen zur Globalisierung an, ohne seine Definition vorzutragen. Hätte ich anfangs gewusst, dass er mit dem Begriff jede echte Diskussion abwürgt, hätte ich die Verwendung des Wortes zu zählen versucht. Jedenfalls trüge die Politik Schröders der Globalisierung Rechnung, weshalb es zu ihr keine Alternative gäbe.
Für Müntefering ist also. die Globalisierung a la Schröder eine Art Allmächtiger, dessen Willen man nicht widersprechen dürfe und solle - zum eigenen Besten. Eine seiner Drohungen hieß: Soziale- Gerechtigkeit kann man auch im Armenhaus haben. " Der erste und einzige im Podium, der auf die „Befindlichkeit" Ostdeutscher aufmerksam machte, war der Vertreter des .DGB, Hanjo Lucassen:
• Die soziale Einheit sei, ins Wanken geraten.
• Viele Ostdeutsche fühlten sich in einer „Sonderregion".
• Die Jugend sehe im Osten keine Perspektive und gehe in Scharen weg.
• Bei Langzeitarbeitslosen im Osten gäbe es bei Hartz IV eine völlig andere Situation als im Westen.
• Die „Zuschauerdemokratie" im Osten sei gefährlich.
• Das Wahlverhalten drücke die tiefe Unzufriedenheit mit der Politik aus.
Wenn nach Lucassens Beitrag. Fragen nach den Ursachen und Auswegen erörtert worden wären, hätte die Diskussion noch nützlich und interessant werden können. Aber Dr. Hans- Jochen Vogel hatte seine eigene Sicht auf die Dinge. Und da er schon vor 1989 so mutig war, oft privat in die DDR zu reisen, hatte er auch ein Rezept parat: Statt die Mundwinkel resigniert nach unten hängen zu lassen, sollten die Deutschen sie freudig und stolz heben (auf Clinton und Bush als Vorbilder verwies er nicht). Vogel staunte, dass die Freude an der Einheit verpufft sei und wünschte sich mehr Dankbarkeit. Er verwies auf die Wiedererrichtung der Dresdner Frauenkirche als „Symbol des Aufbaus“ Sie beweise:: „Das Leben, ist stärker als der Tod,; der Aufbau stärker als. die Zerstörung."
Hier mische ich mich ein. Da ich als Stadtverordneter an den Auseinandersetzungen und, der Abstimmung zum Wiederaufbau teilgenommen hatte, weiß ich: Es ging darum, ob die Ruine als Mahnung an Krieg und. Faschismus und Erinnerung an die Bewegung „Schwerter zu Pflugscharen. Frieden schaffen ohne Waffen!" bleibt oder nicht. Sowohl der katholische als auch der protestantische Pfarrer stimmten bei der namentlichen Abstimmung gegen den Wiederaufbau. Wenn Vogels Wertung stimmen würde, wäre z. B. zu fragen, warum in Coventry die zerstörte Kathedrale Mahnmal bleibt. Aus Freude an Tod und Zerstörung? Falls Vogel einem Rat zugänglich ist: Er möge mit der Bahn Richtung Pirna fahren. und sich von den Einheimischen erklären lassen, was in den Industriebrachen zu beiden Seiten der Bahn vor 1989 produziert wurde, ehe sie „blühende Landschaften" unter wucherndem Unkraut, wurden. Welche Rolle Vogel 1990 spielte, als Hunderttausenden DDR- Bürgern die Arbeit, das Lebensideal und die Zukunftschancen mit brachialer Gewaltgenommen wurden, war ihm kein Wort wert.
Landesbischof i. R. Johannes Hempel war der einzige Sachse im Podium. Wer ihn und sein auch, internationales Wirken aus den siebziger und achtziger Jahren kannte, erlebte eine tiefe Enttäuschung. Hempel erklärte sich zum „unpolitischen Menschen", der großen Respekt vor Politikern habe, weil sie das tun, was er nicht könnte. Im Widerspruch, zu Müntefering plädierte er dafür, „Grenzen des Wachstums" zu beachten. (Damit war .nicht die Begründung gemeint, die der Club of Rom vor 30 Jahren im Hinblick auf die Ressourcen abgab.)
Nun hatte Vogel seinen Beifall erheischenden Auftritt: Eine „Grenze des Wachstums" müsse durch die Gewerkschaften erkämpft werden: - die Bezüge der Aufsichtsräte, müssten begrenzt- werden. Dass er damit die Zustimmung der meisten „Ossis hat, dürfte sicher sein, aber hat er auch seinen -Kanzler gefragt, der die ,Richtlinien der Politik" bestimmt?
Da Podiumsgespräche von denen bestritten werden, die vom sitzen, ist die Gefahr, dass Anfragen und Einwände stören könnten, gering. Am Ende fehlt die Zeit.
Immerhin: Der schwergewichtige
Karl Nolle wies an Daten aus Sachsen nach, dass die Folgen von Hartz IV in Berlin nicht bedacht wurden und in Sachsen katastrophal sein werden. Müntefering „klärte": Die Kassen sind leer, beim Bund, bei den Ländern, in den Kommunen. Die SPD Abgeordnete Renate Jäger (vor 1989 in einem Institut für Lehrerbildung tätig) machte darauf aufmerksam, dass es in der DDR auch Positives (Polikliniken, Kinderkrippen und Tageserziehung) gegeben habe. Hat sie das auch Anfang der neunziger Jahre gewusst und gesagt?
Ein junger Mann wagte es, auf die Tradition und die Verantwortung der SPD gegenübenden einfachen Menschen hinzuweisen. Müntefering bürstete ihn ab, er habe den Prozess der Globalisierung nicht verstanden.
Wer in der Annahme in die Veranstaltung ging, dort würden Ansätze einer Analyse der Lage der Menschen im Osten und Lösungsvorschläge erörtert, wurde enttäuscht. Fragen der Kriegsteilnahme, der Aufrüstungspflicht (die in der EU-Verfassung festgelegt ist) und deren soziale Folgen wurden ohnehin mit keinem Wort erwähnt.
Aber im Leben Herbert Wehners gab es nicht nur die „Godesberger" Linie, sondern
in seiner Dresdner Zeit vor 1933 auch das Beispiel, wie er mutig und erfolgreich
gegen Kriegstreiberei und unsoziale Politik opponierte. Daraus ist zu lernen.