Frankfurter Rundschau, 16.08.2004
Interview: "So gewinnt man kein Vertrauen"
Der sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt über Hartz IV und den Unmut in Ostdeutschland
Frankfurter Rundschau: Herr Ministerpräsident, was haben Sie Montagabend zwischen 17 und 19 Uhr vor?
Georg Milbradt: Ich werde Wahlkampf machen.
Sie nehmen nicht an einer Montagsdemo gegen Hartz IV teil?
Nein.
Aber Sie haben eine Teilnahme für CDU-Mitglieder erwogen.
Nein. Mir geht es darum, die Demonstrationen nicht allein der PDS, NPD oder Gruppen von Attac bis Büso zu überlassen. Auch demokratische Parteien sind verpflichtet, die protestierenden Bürger ernst zu nehmen und gesprächsbereit zu sein. Zu solchen Bürgergesprächen bin ich bereit. Die werde ich führen.
Und was wollen Sie den Menschen sagen?
Das, was ich seit einem Jahr sage: Es geht um Fördern und Fordern. Nur Fordern reicht nicht. Zwei Aspekte sind wichtig. Zum einen der Lohnkostenzuschuss an Betriebe. Bislang ist das im Gesetz nur als Möglichkeit, nicht als Regel vorgesehen. Der zweite Punkt: Es muss eine Strategie her, wie man neue Arbeitsplätze im Osten schafft. In Westdeutschland mag es möglich sein, aus den letzten Ecken Arbeitsplätze hervorzukehren. Bei der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland wird es über zusätzliche Anstrengungen bei der Vermittlung nicht gehen. Ich glaube nicht, dass es überhaupt funktioniert mit der besseren Vermittlung ab dem 1. Januar 2005.Vor allem, da sich jetzt nur eine handverlesene Zahl von Kommunen selbst an Ort und Stelle um die Vermittlung kümmern darf. Es ist doch widersinnig: Als 2002 die Hartz-IV-Debatte begann, gab es 225 Millionen Euro GA-Fördermittel (Mittel aus der "Bund-Länder-Gemeinschaftaufgabe", Red.) für die Schaffung von Arbeitsplätzen in Ostdeutschland, heute sind es 150 Millionen. Die Dinge passen nicht zusammen.
Was ist Ihre Hauptkritik?
Das ganze Projekt ist kommunikativ völlig falsch eingefädelt worden. Die Menschen haben Fragen und bekommen keine vernünftigen Antworten. Da kocht eine Debatte hoch, ob Arbeitslose ihre Datschen verlieren können und die Bundesagentur für Arbeit weiß auch keine Antwort. Dann diese irrsinnige Diskussion darüber, dass 2005 nur elf Mal ausbezahlt wird. Zu allem Überfluss schickt man auch noch beschäftigungslose Telekom-Mitarbeiter als Berater, obwohl es hier genügend Arbeitslose gibt, die das machen könnten. Einfach unsensibel…
Soll Hartz IV verschoben werden oder reichen die Korrekturen der Bundesregierung?
Ich meine, es wäre sinnvoller, sich noch Zeit zu nehmen, um Fehler zu beheben und Unsicherheiten auszuräumen. Ich fürchte, die technischen Voraussetzungen für die Umsetzung können nicht rechtzeitig zum 1. Januar nächsten Jahres geschaffen werden. Auch in der Bundesagentur für Arbeit herrschen erhebliche Zweifel am Zeitplan. Es ist doch phänomenal: Seit zwei Jahren diskutieren wir das Gesetz, eine Bundesagentur mit 90 000 Beschäftigten und ein Bundesministerium kümmern sich darum und erst jetzt tauchen die Umsetzungsprobleme auf. Man sollte meinen, solch ein Projekt sei eigentlich die Topangelegenheit in Regierung und Kanzleramt. So gewinnt man kein Vertrauen.
Was muss im Osten passieren?
Ostdeutschland braucht begleitende Maßnahmen. Man kann nicht Fördermittel zurückfahren in einer Zeit, in der man sie dringend braucht, um Arbeit zu schaffen. Es gibt genügend Investoren, die Arbeitsplätze schaffen wollen. Die Konfusion über Hartz IV überdeckt leider das wichtigste Ziel des Ganzen: Wie kriegen wir Menschen in Arbeit?
Ihr Brandenburger Kollege Matthias Platzeck sagte, bei den Demonstrationen gehe es um mehr. Es gehe um das Gefühl im Osten, grundsätzlich benachteiligt zu sein.
Es ist sicher nicht nur Hartz IV. Das ist nur der Auslöser. Es kommt viel Unmut über die ganze Situation zum Ausdruck, viele enttäuschte Erwartungen. Der Kern ist die hohe Arbeitslosigkeit. Die Menschen glauben nicht mehr, dass Arbeitsplätze geschaffen werden. Seit 1998 klafft die Schere der wirtschaftlichen Entwicklung West- und Ostdeutschlands wieder auseinander und die Menschen merken das natürlich. Sie fragen sich: Hat man uns abgeschrieben?
Erwarten die Ostdeutschen zu viel von der Politik?
Der Glaube, die Politik könne befehlen, Arbeitsplätze zu schaffen, ist in ganz Deutschland noch weit verbreitet. Politiker nähren diesen Irrglauben. Politik schafft nur Rahmenbedingungen, Unternehmen schaffen Arbeitsplätze. Allerdings kann die Politik hierbei gut oder schlecht agieren - und trägt damit natürlich große Verantwortung für das Wohl der Bürger.
Ist die Zeit der Großansiedlungen nicht längst vorbei?
Nein. In der Chipindustrie zum Beispiel ist die Musik noch nicht raus. Auch im Automobilbau ist es noch möglich, Ansiedlungen nach Ostdeutschland zu holen.
Geht die Automobilindustrie nicht nach Osteuropa?
Da, wo arbeitsintensiv gearbeitet wird, ist das richtig. Aber dort, wo moderne Fertigungstechnik zum Einsatz kommt, ist Deutschland nach wie vor konkurrenzfähig.
Aber was passiert in den unterentwickelten Regionen, in der Lausitz oder im Erzgebirge?
Diese Regionen müssen an des Autobahnnetz angeschlossen werden, sonst können wir die hohe Arbeitslosigkeit dort nicht abbauen. Solange die nächstgelegenen Autobahnausfahrt von Annaberg im Erzgebirge 45 Minuten entfernt ist, locke ich dort keinen Investor hin.
Ist es nicht sinnvoller Fördermittel in Wachstumsregionen zu konzentrieren, weil es nur dort Entwicklungspotenziale gibt?
Ja und nein. Nehmen sie zum Beispiel Hoyerswerda. Da werden wir nie so viele Arbeitsplätze schaffen können, wie in der Braunkohleindustrie weggebrochen sind. Aber wenn sie schnelle Verkehrsverbindungen schaffen, dann sind diese Regionen auch besser an die Wachstumsregionen angebunden. Dann kommen die Menschen aus der Lausitz schneller nach Dresden, um dort zu arbeiten
Im Westen sinkt die Bereitschaft den Osten zu alimentieren. Das Argument, wir sind ein Volk, der Aufbau Ost ist eine gesamtdeutsche Aufgabe, zieht nicht mehr. Wie lange geht das noch gut?
Das geht dann gut, wenn man den Westdeutschen erklärt, dass der Aufbau Ost ureigenstes Interesse aller Deutschen ist. Denn dort entscheidet sich, wie es mit Deutschland insgesamt weitergeht. Es ist ja auch schon viel geschafft worden. Wir betrachten immer nur die hohe Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland. Das ist doch nur ein Teil der Realität. Die Lebensqualität hat längst Westniveau erreicht. Die großen Umweltprobleme sind beseitigt, Wohnungsnot gibt es nicht mehr, das Gesundheitssystem ist modernisiert, das Schulsystem ist konkurrenzfähig. Das sind Erfolge, die dürfen wir nicht klein reden.
Nährt das nicht erst Recht die Vorurteile? Viele Menschen in Gelsenkirchen oder Duisburg sagen doch, es ist genug Geld in den Osten geflossen, jetzt sind wir dran.
Sie können doch nicht die Lokomotive in dem einen Zug mit dem Schlusswagen im anderen vergleichen, also Dresden nicht mit Gelsenkirchen. Es ist doch ein Unterschied, ob ich in Sachsen durchschnittlich 18 bis 20 Prozent Arbeitslosigkeit habe, oder ob es in Gelsenkirchen 16 Prozent sind, drum herum aber deutlich niedrigere Arbeitslosenquoten. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen Ost und West, auch bei der Kaufkraft oder der Wirtschaftsleistung.
Trotzdem, die Bereitschaft, dem Osten zu helfen, sinkt. In den Milliardentransfers sehen viele Westdeutsche die Ursache ihrer Krise.
Da werden doch die Augen davor verschlossen, dass es die Probleme in Deutschland schon in den achtziger Jahren gegeben hat. Die Deutsche Einheit hat die Herausforderungen der Europäisierung und Globalisierung nur überlagert. Darauf hat Deutschland nicht rechtzeitig reagiert. Das holt uns jetzt ein, in Ost und West.
(Interview: Bernhard Honnigfort und Christoph Seils)